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Wie Stalins Rote Armee die Krim eroberte »
Mit einer zweifachen Kapitulation am 31. Januar und am 2. Februar 1943 endete die Kesselschlacht um Stalingrad. Am Ende verweigerte sich General Paulus doch noch einem Befehl Hitlers.
Ein Feldmarschall ergibt sich nicht. Bevor ein Offizier dieses höchsten militärischen Ranges in Kriegsgefangenschaft geht, wählt er lieber den Freitod. Das war ehernes Gesetz der preußisch-deutschen Armee. Unmöglich für einen Berufssoldaten, dagegen zu verstoßen.
Genau das wusste auch Friedrich Paulus, der Oberbefehlshaber der längst fast völlig aufgeriebenen sechsten Armee im Kessel von Stalingrad. Er verstand also, was der Funkspruch bedeutete, den er in der vorletzten Januarnacht 1943 aus dem Führerhauptquartier erhielt. Hitler ernannte ihn, den „Oberbefehlshaber der ruhmreichen sechsten Armee, den heldenhaften Verteidiger von Stalingrad, zum Generalfeldmarschall“. Die Beförderung war nichts anderes als der Befehl, seinem Leben ein Ende zu setzen.
Die letzte Nachricht aus Paulus’ Gefechtsstand, dem Keller des zu einer rauchenden Ruine zusammengeschossenen Kaufhauses Univermag am Roten Platz im südlichen Teil des Kessels, ging am 31. Januar kurz vor acht Uhr morgens ab. Rotarmisten waren bereits bis zur Treppe vorgestoßen. In dem Funkspruch teilte Paulus’ Stabschef Generalleutnant Arthur Schmidt mit, nunmehr die Funk- und die Chiffriergeräte zu zerstören.
Das Oberkommando der Wehrmacht verstand diese Mitteilung ganz im Sinne der militärischen Tradition: als verklausulierte Ankündigung des Freitods, ebenso wie die Beförderung von Paulus eine verklausulierte Weisung zum Suizid gewesen war.
„Die Armee hält ihre Position“
Wie selbstverständlich notierte Joseph Goebbels, der seinen Propagandaapparat nach langem Zögern doch auf die unausweichliche Niederlage vorbereitet hatte, noch in der folgenden Nacht: „Wir stellen uns die Frage, ob Generalfeldmarschall Paulus überhaupt noch lebt. Es bleibt für ihn ja nach Lage der Dinge nichts anderes als ein ehrlicher Soldatentod übrig.“
Doch der Oberbefehlshaber bewies in seinen letzten Minuten als deutscher Befehlshaber unerwarteten Mut. Wochenlang hatte er wider besseres Wissen alle Haltebefehle Hitlers befolgt, mehrere Kapitulationsangebote der Roten Armee ebenso brüsk angelehnt wie Vorschläge seines Stabes, sich den Weg nach Westen freizukämpfen.
Einmal hatte Paulus sich dazu durchgerungen, um die Erlaubnis zu bitten, die sinnlosen Kämpfe einzustellen. Doch Hitler antwortete unmissverständlich: „Verbiete Kapitulation. Die Armee hält ihre Position bis zum letzten Soldaten und zur letzten Patrone und leistet durch ihr heldenhaftes Ausharren einen unvergesslichen Beitrag zum Aufbau der Abwehrfront und zur Rettung des Abendlandes.“
Paulus’ Reaktion war scheinbar eindeutig: Noch am 29. Januar 1943 ging ein kriecherischer Funkspruch in seinem Namen ans Führerhauptquartier ab, der dem „Führer“ anlässlich des zehnten Jahrestages seiner Ernennung zum Reichskanzler gratulierte.
Weder im Oberkommando der Wehrmacht noch im Führerhauptquartier ahnte jemand, dass Friedrich Paulus sich inzwischen für eine andere Lösung entschieden hatte: Er autorisierte den eben erst ernannten neuen Befehlshaber der 71. Infanteriedivision, Generalmajor Fritz Roske, mit sowjetischen Parlamentären zu verhandeln. Auch andere Offiziere knüpften Kontakte zu ihren sowjetischen Gegnern, teilweise auf eigene Initiative, aber doch nachträglich von Paulus oder seinem Stabschef Schmidt gutgeheißen.
„Wir hatten keine weiße Flagge dabei“
Roske, der eigentlich Oberst war und Kommandeur des Grenadierregiments 194, hatte nach dem Tod seines Vorgesetzten am 29. Januar die 71. Division übernommen. Sie verfügte zu dieser Zeit aber nur noch über etwa 200 Mann. Im gesamten Südkessel in Stalingrad befanden sich höchstens 20.000 deutsche Soldaten, von denen nur jeder zehnte noch kampffähig war. Für den Morgen des 31. Januar, eines Sonntags, verabredete Roske, Abgesandte der Roten Armee im Gefechtsstand zu empfangen.
Über den genauen Ablauf der Kapitulation gibt es verschiedene Schilderungen. Der Wirklichkeit am nächsten kommen dürften jene Schilderungen, die eine sowjetische Historikerkommission bei Interviews Ende Februar 1943 festhielt. Sie sind vor Kurzem von dem Osteuropahistoriker Jochen Hellbeck in seinem Buch „Die Stalingrad-Protokolle“ in Auswahl veröffentlicht worden.
Auf sowjetischer Seite übernahm Oberstleutnant Leonid Winokur die Verhandlungen. Er war der Politkommissar der 38. Schützenbrigade. Die Männer seiner Einheit hatten das zerschossene Kaufhaus umzingelt. Winokur nahm sich ein knappes Dutzend Männer als Begleitung mit: „Wir gingen in den Hof. Hier hatten wir keine weiße Flagge dabei. Mit Flagge wäre ich nicht hineingegangen.“
Im Hof der Ruinen standen deutsche Soldaten, doch sie ließen die bewaffneten Rotarmisten anstandslos passieren. Winokur dachte, er sei in eine Falle geraten: „Ich dachte, ,Bist du ihm auf den Leim gegangen, du Trottel!’“ Doch dann kam ein deutscher Stabsoffizier und fragte: „Das Recht, Verhandlungen zu führen?“ Winokur antwortete knapp: „Ja.“ Eine Übersetzung war unnötig. Zwei Minuten später wurde der Politkommissar die Treppe in den Keller hinabgeführt.
Paulus’ Pistole wurde übergeben
Er betrat ein Arbeitszimmer mit einem runden Tisch, vier Betten, einem Funkgerät und zwei Telefonen, die ständig klingelten: „Roske empfing mich; nicht sehr groß, hager, etwa 44, 45 Jahre. Er war sichtlich nervös. Rechts von ihm saß Generalleutnant Schmidt. Der ganze Stab saß da.“
Die Verhandlungen begannen – mit dem Eingeständnis von Fritz Roske, er verhandele nicht im Namen von Friedrich Paulus. „Das waren buchstäblich seine ersten Worte“, erinnert sich Winokur. Der Generalfeldmarschall wollte nicht kapitulieren, also hielt er sich aus den Waffenstillstandsgesprächen einfach heraus. Paulus habe die Befehlsgewalt niedergelegt, erinnerte sich später ein sowjetischer Augenzeuge an Roskes Erklärung.
Der Politkommissar warf einen Blick ins Nachbarzimmer, in dem Paulus sich aufhielt. Er lag auf dem Bett, der Raum war unbeschreiblich schmutzig. Der Oberbefehlshaber hatte sich offenbar seit Tagen nicht rasiert, im Gegensatz zu seinen Adjutanten, seinem Stabschef und Roske, die einen „schneidigen Eindruck“ auf Winokur machten.
Man einigte sich darauf, die Kämpfe um den Südkessel einzustellen. Roske übergab die persönliche Pistole von Friedrich Paulus, dann kamen weitere, ranghöhere Sowjetoffiziere. Die Kapitulation war vollzogen, Paulus und sein Stab wurden weggefahren.
„Bis zum letzten Mann“
Die Kapitulation galt nur für den südlichen, kleineren Teil des Kessels. Im nördlichen, größeren Teil hatte General der Infanterie Karl Strecker das Kommando. Er hielt seine Stellung noch weitere 48 Stunden. Obwohl sowjetische Lautsprecherwagen die Nachricht von der Kapitulation von Paulus über die Frontlinie dröhnten, gab er noch nicht auf.
Das brachte Strecker am 1. Februar 1943 noch die Beförderung zum Generaloberst und einen persönlichen Haltebefehl Hitlers ein: „Jeder Tag, jede Stunde, die dadurch gewonnen wird, kommt der übrigen Front entscheidend zugute.“
Am folgenden Morgen war aber auch die letzte Position nicht mehr zu halten. Die sechs Divisionen seines Armeekorps hätten „in schwerstem Kampf bis zum letzten Mann ihre Pflicht getan“, meldete Strecker in seinem letzten Funkspruch. Gegen neun Uhr am 2. Februar 1943 endete die Schlacht von Stalingrad mit der totalen Niederlage der Wehrmacht.
„Es ist immer noch die Frage, ob Generalfeldmarschall Paulus noch lebt oder ob er freiwillig in den Tod gegangen ist“, diktierte Joseph Goebbels in der Nacht zum 4. Februar 1943 seinem Sekretär: „Die Bolschewisten beharren darauf, dass er sich in ihrer Hand befinde, und ich glaube, es besteht kaum ein Zweifel an der Richtigkeit dieser Meldung.“ Eiskalt stellte der Propagandaminister fest: „Diese Tatsache stellt für das Heer eine schwere moralische Einbuße dar.“
Epilog: Einen Personalbestand von rund 275.000 Mann meldete die sechste Armee Anfang Dezember 1942. Darunter waren etwa 11.000 rumänische Soldaten und einige Zehntausend russische Hilfswillige. Davon gingen rund 110.000 in Kriegsgefangenschaft. Etwa 6000 überlebten die Gefangenschaft. Die sowjetischen Verluste bei Stalingrad werden auf mehr als 1,1 Millionen geschätzt, davon mindestens 500.000 Tote, die Zivilisten nicht mitgerechnet.
Dieser Artikel wurde erstmals 2013 veröffentlicht.
Quelle: Welt de - 15.11.2021 - Sven Felix Kellerhoff - Leitender Redakteur Geschichte
Der Beitrag wurde
am Dienstag, den 10. Januar 2023 um 19:55 Uhr
unter der Kategorie Vorstand veröffentlicht.
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