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Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt 1939 »
Wie sich noch immer die These vom Präventivkrieg hält
Die Truppenkonzentrationen, auf die die Wehrmacht bei ihrem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 stieß, werden gern als Argument angeführt, Hitler sei einem Schlag Stalins zuvorgekommen. Die deutschen Akten zeigen ein anderes Bild.
Irgendetwas war durchgesickert. Jedenfalls hielten sich in den ersten beiden Juniwochen 1941 in Deutschland hartnäckig Gerüchte über eine tiefgreifende Veränderung der deutsch-sowjetischen Beziehungen. Eine eindeutige Tendenz freilich konnten die Spitzel des Inlandsnachrichtendienstes der SS, des SD, bei ihrer Beobachtung ganz normaler „Volksgenossen“ nicht feststellen. Vielmehr kursierten sowohl Vermutungen, Stalin werde Hitler entgegenkommen und die Ukraine auf 99 Jahre an das Reich verpachten, als auch Spekulationen über einen bevorstehenden Angriff der Wehrmacht auf den ungeliebten Verbündeten im Osten.
Sogar die deutschen Truppentransporte gen Osten, die der Bedeutung des Verkehrsknotenpunkts Berlin wegen häufig über Bahnhöfe der Reichshauptstadt abgewickelt wurden, interpretierte der Volksmund unterschiedlich: mal als Vorbereitung auf eine kommende Invasion der Sowjetunion, mal als Verlegungen von Einheiten für eine zweite Front gegen Großbritannien im Nahen Osten, deren Durchmarsch über sowjetisches Territorium Stalin angeblich erlaubt habe. Unzweifelhaft lag etwas in der Luft – nur was?
Damals war die Ungewissheit unvermeidlich. Doch acht Jahrzehnte später gibt es sie immer noch, oder, genauer gesagt: Bis heute versuchen Geschichtsfälscher, sich die damalige Ungewissheit zunutze zu machen, um das Hitler-Regime reinzuwaschen von der Erkenntnis, dass es sich beim „Unternehmen Barbarossa“ um einen Eroberungs- und Vernichtungskrieg handelte.
Die Tatsache, dass die Wehrmacht am 22. Juni 1941 an der Demarkationslinie zwischen dem deutsch besetzten Zentral- und dem sowjetischen besetzten Ostpolen am Bug im ersten Morgengrauen die Kampfhandlungen eröffnete, kann niemand wegdiskutieren. Also greifen die Manipulateure zu einem anderen Mittel und behaupten, die Wehrmacht sei nur knapp einem Angriff der Roten Armee zuvorgekommen.
Sie bedienen sich dazu direkt bei der Goebbels-Propaganda. In der Morgenausgabe vom 23. Juni 1941 schrieb der „Völkische Beobachter“, das Zentralorgan der NSDAP: „Die Beobachterergebnisse der letzten Tage zeigen, dass die Gruppierung der russischen Truppen und insbesondere der motorisierten und Panzerverbände in einer Weise erfolgt ist, dass das russische Oberkommando zu einem aggressiven Vorgehen gegen die deutsche Grenze an verschiedenen Stellen jederzeit in der Lage ist.“
Das war eine glatte Lüge. Der letzte Bericht der für die „Feindlage“ zuständigen Experten des Generalstabes des Heeres, der Abteilung Fremde Heere Ost, vor dem Angriff, verfasst am 13. Juni 1941, ließ „im Großen gesehen defensives Verhalten erwarten“. Das passte zu den früheren Beobachtungen der Abteilung vom 20. Mai (eine „Präventiv-Offensive“ der Roten Armee sei „unwahrscheinlich“), und vom 15. März („Teilmobilmachung und Aufschließen russischer Truppen zur Grenze ist Defensivmaßnahme und dient lediglich zur Verstärkung der Grenzsicherung“).
Entsprechend sahen es die Spitzen von Wehrmacht und Regime. Generalstabschef Franz Halder erklärte am 4. Juni 1941: „Der russische Aufmarsch kann präventiven und defensiven Charakter haben. Defensive Absichten sind anzunehmen.“ Joseph Goebbels hielt zwölf Tage später fest: „An personellem und materiellem Wert sind sie (die sowjetischen Streitkräfte; die Red.) mit uns überhaupt nicht zu vergleichen. Der Durchstoß geht an verschiedenen Stellen vor sich. Sie werden glatt aufgerollt“, notierte der Propagandaminister am frühen Morgen des 16. Juni 1941: „Der Bolschewismus wird wie ein Kartenhaus zusammenbrechen. Wir stehen vor einem Siegeszug ohnegleichen.“
Angst vor einem Überraschungsangriff, dem man selbst zuvorkommen müsse, hatten im Frühsommer 1941 also weder die Führung des Dritten Reiches noch seine wichtigsten Militärs. Warum hält sich dennoch die gegenteilige Behauptung, beim Angriff habe es sich um einen Präventivkrieg gehandelt?
Erstens und vor allem, weil dem skrupellosen Machthaber Josef Stalin jede Niedertracht zuzutrauen war und daher auch ein Angriffskrieg. Das hatte der Kreml-Herr mit seinem Nichtangriffspakt mit Hitler und dem folgenden Überfall auf Ostpolen am 17. September 1939 ebenso bewiesen wie mit dem Angriff auf Finnland wenige Monate später. Die unter Gewaltandrohung erfolgte Annexion der baltischen Staaten und Bessarabiens im Sommer 1940 zeigte, dass der Ausdehnungswille der UdSSR noch keineswegs gestillt war.
Allerdings war Stalin weitaus vorsichtiger als sein Gegenspieler in Berlin: Er wollte Krieg gegen starke, möglicherweise sogar überlegene Gegner unbedingt vermeiden, denn er war sich seiner Macht weitaus weniger gewiss als Hitler. Eher setzte er auf sich bietende Gelegenheiten. Ausnahmsweise ganz treffend hatte Goebbels diesen Gedanken im selben Tagebucheintrag am 16. Juni 1941 beschrieben: „Moskau will sich aus dem Krieg heraushalten, bis Europa ermüdet und ausgeblutet ist. Dann möchte Stalin handeln, Europa bolschewisieren und sein Regime antreten.“
Zweitens wusste Stalin von Überlegungen des Dritten Reiches, einen Krieg gegen die UdSSR zu beginnen – seine höchsten Generäle hatten ihn ebenso wiederholt davor gewarnt wie der Geheimdienst NKWD. Doch der Diktator glaubte daran nicht, weil er nicht daran glauben wollte: „Er hatte nicht geahnt oder vorausgesehen, dass der Pakt von 1939, den er als Frucht seiner eigenen großen Hinterlist betrachtete, von einem Gegner gebrochen würde, dennoch hinterlistiger war, als er selbst“, schrieb Stalins Tochter rückblickend.
Drittens standen tatsächlich im Juni 1941 starke Truppen der Rote Armee im besetzten Ostpolen und im Westen der Sowjetunion – allerdings weder in einer geeigneten Staffelung für einen Angriff (für den motorisierte Verbände weit vorne konzentriert wären, gefolgt von starken Infanteriedivisionen und sehr viel verladebereitem Nachschub) noch für die Defensive (Infanterie in vorbereiteten Stellungen direkt an der Grenze, dahinter motorisierten Verbänden und dem Nachschub weit zurückgenommen, um ihn im Falle eines örtlichen Durchbruchs des Feindes nicht zu gefährden). Die Stellungen der Roten Armee zum Zeitpunkt des deutschen Angriffs war weder für das eine noch für das andere geeignet – die Folge der widersprüchlichen Weisungen aus Moskau.
„Der Feind war von dem deutschen Angriff überrascht“, hielt General Halder am ersten Tag der Offensive denn auch fest: „Seine Truppen in der Grenzzone waren in weiten Unterkünften verteilt, die Bewachung der Grenze selbst war im Allgemeinen schwach.“ Er erwartete, binnen zweier Wochen den Feldzug entscheiden zu können.
Stand: 16.06.2021 - Von Sven Felix Kellerhoff -in: Welt de
Der Beitrag wurde
am Montag, den 21. Juni 2021 um 00:13 Uhr
unter der Kategorie Vorstand veröffentlicht.
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