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Im Sommer 1943 mussten sich die deutschen Armeen unter dem Druck der Roten Armee weit nach Westen zurückziehen. Wie Archivfunde zeigen, fehlte es an Waffen, Männern und Moral.
Das Jahr zwischen dem Scheitern der deutschen Sommeroffensive im Juli 1943 gegen Kursk und dem Zusammenbruch der deutschen Heeresgruppe Mitte im Juni 1944 gehört zu den wenig beachteten Kapiteln des Zweiten Weltkriegs. Das mag mit dem merkwürdigen Missverhältnis zusammenhängen, das diese Periode des Kriegs im Osten prägte. Einem ruhmlosen deutschen Rückzug standen ruhmlose Siege der Roten Armee gegenüber, deren Verluste dabei trotz drückender Überlegenheit das Fünf- bis Zehnfache der Gegenseite erreichten.
„Die Rote Armee kämpfte immer noch mit bemerkenswert ineffektiven Methoden und behalf sich damit, den Gegner durch brutalen Masseneinsatz ohne Rücksicht auf eigene Verluste zu erdrücken“, erklärt der Historiker Karl-Heinz Frieser dieses Phänomen. Gleichwohl handelte es in dieser Zeit um „Auseinandersetzungen, die in ihrer Wucht die Kämpfe der ersten Kriegsjahre noch übertrafen“.
Ihre Monstrosität spiegelt sich in den Akten der 7. Infanterie-Division, die sich in großer Zahl im Militärarchiv des Bundesarchivs in Freiburg erhalten haben. Der Großverband, der zu den traditionsreichen Eliteeinheiten der Wehrmacht gehörte, war nach schweren Verlusten 1942 im Frühjahr noch einmal personell und technisch aufgerüstet worden. Anschließend wurde die Division von der Heeresgruppe Mitte in dem „Unternehmen Zitadelle“ um Kursk eingesetzt und nahm an den schweren Abwehrkämpfen bei Orel teil. Von dort reihte sie sich in den großen Rückzug nach Westen ein, der mit Ausnahme der Nordfront die Bewegungen der Wehrmacht von da an kennzeichnete.
Krieg im Osten: 17 Stunden pro Tag am Steuer
Der Fuhrpark der Division war weitgehend verschlissen, der Nachschub musste verstärkt mit Pferdefuhrwerken geleistet werden. In den ununterbrochenen Kämpfen nahmen die Ausfälle bei den Tieren dramatische Formen ab. Die Fahrer der wenigen Lastwagen waren 17 Stunden pro Tag am Steuer, meldete der Quartiermeister. Aber während durch großflächige „Evakuierungsmaßnahmen“ Verpflegung mehr als ausreichend vorhanden war, mangelte es an Munition, Artillerie und Panzerabwehr.
Die Soldaten seien „übernächtigt, erschöpft, ungepflegt – mit versandeten Waffen, hatten sie die schweren Kämpfe durchgehalten“, heißt es in einem Bericht. Die Verluste an Frontoffizieren und erfahrenen Unteroffizieren zehrten ebenso an der Kampfkraft wie der „stark absinkende Ausbildungsstand“ des spärlichen Ersatzes.
Um überhaupt genügend Mannschaften für den Kampfeinsatz zu gewinnen, wurde „schärfstes Auskämmen der Trosse“ befohlen. Das aber bedeutete, dass die Kompanien und Bataillone nur noch „zusammengewürfelte“ Verbände waren, Soldaten aus der Etappe, „die kaum ihre Waffen bedienen können und zum Teil mit russischen Beutewaffen“ ausgerüstet werden mussten.
Zwei Befehle über den Ausrüstungsstand sprechen Bände: „Beutemunition ist ebenso wertvoll wie Beutewaffen und daher sorgfältig zu bergen“, heißt es in einer Order. In einer anderen wurden die Soldaten dazu aufgefordert, Stahlhelme gefallener Kameraden nicht mehr als Schmuck auf ihren Gräbern zu verwenden. Der Kopfschutz sei als „wertvolles Rohmaterial“ der „Schrottsammelstelle zuzuführen“.
Gigantische Verluste der Roten Armee
Entsprechend geriet die Gesamtaufnahme, zu der sich die Details fügen: Bis Ende August 1943 hatte die Wehrmacht im Großraum Kursk 170.000 Soldaten, 760 Panzer und 524 Flugzeuge verloren. Die Verluste der Roten Armee im gleichen Zeitraum betrugen 1,68 Millionen Soldaten, 6000 Panzer und 4200 Flugzeuge.
Dennoch konnten die sowjetischen Armeen bis zum Jahresende ihren Personalbestand mit 163 Schützen- und 220 Panzerverbänden auf mehr als sechs Millionen Mann erhöhen. Trotz der Verluste bei Kursk schätzte die deutsche Aufklärungsabteilung Fremde Heere Ost den Panzerbestand der Roten Armee im Oktober 1943 auf fast 10.000 Kampfwagen. Bei den Flugzeugen konnten die Wehrmachts-Analytiker „keinen entscheidenden Einschnitt in der Entwicklung des Gesamtbestandes“ feststellen. Hinzu kamen große Lieferung aus dem Leih- und Pacht-Gesetz mit den Vereinigten Staaten.
Während die Sowjetunion ihre Kriegsindustrie weiterhin ausbaute, gelang dies dem Deutschen Reich nur bedingt. Zwar konnte die Rüstungsproduktion gesteigert werden. Doch irgendeine Hoffnung, im Rüstungswettlauf mit den Alliierten aufzuholen, bestand nicht. Auch hatten sich „der lautstarken Proklamation des ,totalen Krieges’ zum Trotz … die Bemühungen um eine an den Bedürfnissen der Front orientierte ,Menschenbewirtschaftung’ mehr oder minder als Fehlschlag erwiesen“, schreibt der Historiker Bernd Wegner in dem Reihenwerk „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“.
Ab 1943: 20 Kilometer Frontabschnitt für eine Division
Da nach der alliierten Landung auf Sizilien und in Erwartung einer Invasion in Frankreich zahlreiche gut ausgerüstete Panzer-Divisionen in den Westen verlegt wurden, blieben von den rund vier Millionen Soldaten des deutschen Feldheeres (bei einer Gesamtstärke von 6,8 Millionen) nur noch 2,6 Millionen an der wichtigsten Front des Krieges zurück. Das bedeutete, dass eine Division mittlerweile einen Frontabschnitt von rund 20 Kilometer Breite zu verteidigen hatte, obwohl ihre Regimenter häufig nur noch über die Stärke von Bataillonen verfügten. Zum Vergleich: Im Juli 1918 waren es an der Westfront gerade einmal 3,5 Kilometer gewesen.
Physisch und psychisch ausgelaugt, schleppten sich die Verbände des Ostheeres nach Westen. Mit schöner Regelmäßigkeit mussten sie neue, nur rudimentär ausgebaute Stellungen beziehen, die die Rote Armee trotz aller Mängel in der Taktik doch binnen kurzer Zeit zum Einsturz brachte. Für diesen Krebsgang stehen Befehle wie: „In den erreichten Widerstandslinien ist zur entscheidenden Verteidigung überzugehen“ oder: „Mit weiterer Verschiebung nach Westen und neuen Angriffen des Feindes ist zu rechnen“.
Als die 7. Infanterie-Division schließlich den Dnjepr erreichte, war sie „nur noch ein Schatten des stolzen Glanzes von einst“. Mit wenigen ausgelaugten Bataillonen war sie auf den Status einer „Kampfgruppe“ reduziert und wäre beinahe gänzlich aufgelöst worden. Um Soldaten für die Front zu gewinnen, wurden erschöpften Nachschubeinheiten radikal ausgedünnt. Umgekehrt erkannten Stalin und seine Generäle, dass sie es – trotz aller Verluste – nun selbst in der Hand hatten, die Deutschen zu schlagen.
Von Berthold Seewald. In: Welt de
Der Beitrag wurde
am Montag, den 6. August 2018 um 01:43 Uhr
unter der Kategorie Vorstand veröffentlicht.
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