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Wie Stalins Rote Armee die Krim eroberte -April 1944- »
Ida L. hat eine Kiste mit über hundert Briefen ihrer Familie gefunden. Es sind bewegende Zeugnisse sowohl ihrer Familiengeschichte als auch der Zerstörung Gochs im Februar 1945.
Die Vergangenheit verbirgt sich manchmal in Erinnerungen, über die kaum gesprochen wird. Oder in einer “Schatzkiste”, die Jahrzehnte in einem Wohnzimmerschrank verstaut und nicht mehr beachtet wurde. Ida Lehmann aus Nierswalde fand eine solche Schatzkiste, als sie für ihre Tante Irene R., die in ein Pflegeheim umziehen musste, deren Haushalt auflöste.
Über hundert Briefe und Feldpostbriefe aus dem Zweiten Weltkrieg traten dabei zu Tage, insbesondere zahlreiche Briefe, die Großmutter Martha H. an Tochter Irene in den letzten Monaten des Krieges schrieb. Sie dokumentieren nicht nur das private Schicksal der Familie H., sondern auch die Zerstörung der Stadt Goch um den 7. Februar 1945.
Wissenschaftler werten Briefe aus
“Ich habe mich immer für Geschichte interessiert und war sicher, dass die Briefe einen historischen Wert haben”, erzählt Ida L. Deshalb sei sie mit allen Schriftstücken zum Befreiungsmuseum im niederländischen Groesbeek gegangen. Dort habe Wiel Lenders sie beraten, sämtliche Briefe digitalisiert und die Originale in den Museumsbestand aufgenommen. Zu Hause hat sie noch die Kopien, die wissenschaftliche Auswertung überlässt sie den Fachleuten.
Das Persönliche darin aber beschäftigt sie: “Ich war traurig, dass ich die Briefe erst so spät gefunden habe”, sagt sie. Erst vor wenigen Wochen verstarb 96-jährig ihre Tante Irene R., die Empfängerin der meisten Briefe.
Vater wurde im Krieg vermisst
Sie lebte während des Krieges in Berlin, wo sie als Sekretärin für die Firma Ferdinand Porsche arbeitete. Mutter Martha lebte mit Tochter Irmgard in Pfalzdorf, zeitweise auf dem Borgardts Hof an der Klever Straße. Von hier aus informierte sie regelmäßig über Lebenszeichen des Vaters, der als Soldat an der Front war.
Am 30. August 1944 teilt sie mit, dass Vater Heinrich als vermisst gemeldet wird.
“Zum Glück und als ob Papi es geahnt hätte, kam noch auf einem Fetzen schmuddeligen Papiers ein Brief vom 8. August von Papi, und an diesen klammere ich mich vorerst und hoffe sehr, dass er in Gefangenschaft geraten und nicht ohne Nahrung und Geld umherirrt oder gar leiblich getroffen irgendwo liegt”, schreibt sie.
Vater Heinrich lief zu Fuß von Heidelberg nach Goch
Vater Heinrich wird nach Kriegsende überraschend heimkehren. Er legt die Strecke von Heidelberg nach Goch in einem wochenlangen mühseligen Marsch zu Fuß zurück. Die Brüder von Irmgard und Irene, die Zwillinge Heinrich und Wilhelm, kehren nicht zurück. Sie sterben an der Front, der eine mit 19, der andere mit 20 Jahren.
In den Briefen stehen die Not und die Sorge um das Leben der Männer, Söhne und Brüder neben dem verzweifelten Aufrechterhalten der Normalität. Kurz vor der Zerstörung der Stadt Goch im Februar 1945 berichtet Martha noch davon, dass bei “Derksen an de Kerk” und bei Auler in Pfalzdorf “lustige Abende” veranstaltet wurden. Im gleichen Brief heißt es: “Goch ist geräumt und nur mit Ausweis darf man hinein und den bekommt man nicht, also tote Stadt (…).”
Beim Lesen hört Ida Lehmann die Stimme ihrer Großmutter
Besonders bewegend ist der Brief vom 9. Februar 1945. “…ob wir morgen noch hier sind? Was uns die Nacht bringt? Und auch bei dir? Wir wissen hier nichts, kein Licht kein Radio, keine Zeitung”.
Der Brief spiegelt die Bedrängnis: “Flugzeuge und Geschwader sausen durch die Luft”, bei Nacht flieht die Familie aus dem Zentrum des Gefechts am Niederrhein. “Wo ist man sicher, es gibt nur noch Überlebende und Tote, auf dem Weg sind wir, und zu wem gehören wir?”, so der Text.
Ida L. betont, sie höre beim Lesen die Stimme ihrer Großmutter, das falle ihr schwer. Die Generation ihrer Großeltern habe zwei Kriege erlebt. Mit ihrer Tante Irene sei wiederum eine Zeitzeugin verstorben, man müsse daher sorgen, dass die Geschehnisse nie in Vergessenheit geraten.
Auch nachdem Ida L. die Originale den Historikern des Befreiungsmuseums überlassen hat, ruhen die Kopien bei ihr und sie überlegt, was sie daraus machen kann. Vielleicht ein Buch schreiben? Alles festhalten, damit die Geschichte der Familie nicht vergessen wird?
Quelle: Von Antje Thimm, in: RP - 31. März 2018
Der Beitrag wurde
am Samstag, den 31. März 2018 um 21:15 Uhr
unter der Kategorie Vorstand veröffentlicht.
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