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Brief-Botschaften aus dem Jahr 1945 »
Vor mehr als fünfzig Jahren kam ein Tagebuch in ein russisches Archiv:
Aufzeichnungen der jungen Lena Muchina aus Leningrad zur Zeit der Belagerung durch die Deutschen. Jetzt ist es übersetzt worden.
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Als der Zweite Weltkrieg ausbricht und Leningrad erreicht, ist Lena Muchina sechzehn Jahre alt. Sie schwärmt gerade für einen Jungen namens Wowa, liest Lermontow und sucht eine allerbeste Freundin, mit der sie alles teilen kann. „Mir fehlt immer irgendetwas. Ich spüre eine Leere“, notiert sie in ihr Tagebuch. Würde die Liebe helfen? Wie fühlt sich der erste Kuss an? Das sind drängende Fragen der Schülerin, die sich zum Lernen für Prüfungen disziplinieren muss. Sie schreibt, wie man in dem Alter so schreibt, mit ein bisschen Pathos, verärgert, fröhlich, tratschend. Dazwischen ein lebenskluger, verdunkelter Satz: „Und wie unbemerkt so ein Tag vergeht.“
Dass der Krieg ein ganz normales Leben zerschneidet, das weiß man, das ahnt man. In Lenas Tagebuch teilt sich der Bruch als brutale Erschütterung in Stil und Inhalt mit, und zwar exakt am 22. Juni 1941, als deutsche Truppen die Grenze überschreiten. Lena altert über Nacht. Sie ist eine andere danach. War sie vorher böse mit Wowa, der sie nicht bemerkt, oder traurig wegen des abgesagten Sommerurlaubs, ist sie jetzt sachliche Protokollantin. Sie informiert, wo „der Feind“ steht. Sie repetiert mutmachende Phrasen, die das Radio bringt, als würde das genaue Notieren Sicherheit geben in einer haltlos gewordenen Lebenswelt.
Ein Dokument aus dem Innern der Blockade
Dieser Wechsel im Ton ist eklatant spürbar, ein schmerzhafter Ruck geht durch Lenas Persönlichkeit. Das Mädchen klebt Schulfenster ab, füllt Papiersäckchen mit Sand und häuft sie an Türschlitzen gegen Explosionen. So, schreibt sie, wurde es im Kino erklärt. Sie wird auf eine lange Wanderung in die Dörfer geschickt, zum Arbeitsdienst in Nachtschichten. Manchmal denkt sie noch an Wowa. Dann reglementiert sie sich: „Flugzeuglärm unterbricht meine Grübeleien. Ich kehre zur Wirklichkeit zurück.“
„Lenas Tagebuch“, spät entdeckt - die russische Originalausgabe erschien 2011 -, ist nicht nur in seiner Vollständigkeit eine Sensation. Lena Muchina macht die Zeit der Leningrader Blockade 1941/42 - die Belagerung dauerte bis Januar 1944 - exemplarisch für viele sichtbar und spürbar. Sie protokolliert, was sie tut, was sie denkt, was sie nicht isst, aber herbeiphantasiert; wie sie Hunger, Frost, Schwäche während der von den Nationalsozialisten angewiesenen Aushungerung eines Volkes überlebt. Und was das heißt: so etwas zu überleben. Ihr Tagebuch ist wie das der Anne Frank ein Dokument, das dieses unmenschliche Kapitel der Geschichte von innen her ausleuchtet.
Brot, Tee und das Tagebuch
Dass man es jetzt lesen kann und sogar weiß, was aus Lena Muchina später wurde, ist ein Glücksfall. 1962 gelangten die Seiten ins Leningrader Parteiarchiv. Die Suche nach der unbekannten Autorin aber erwies sich als schwierig und langwierig. Eine Randnotiz führte zu Verwandten, da war Lena Muchina schon tot, aber sie hatten noch Briefe und Fotoalben von ihr, und man erfuhr, dass sie es geschafft hatte, im Juni 1942, kurz nach Abbruch des Tagebuchs, aus Leningrad evakuiert zu werden. Sie starb 1991. Dass sie während der Blockade Tagebuch geführt hatte, wussten die Verwandten nicht. Dabei sollte das Tagebuch Lenas „traurige Geschichte“ nicht zuletzt für die Familie aufbewahren.
Man liest es mit wachsender Beklemmung, kann es kaum aus der Hand legen. Zunächst, weil darin die Wirklichkeit wie ein grausames Abenteuer erscheint, mit einer großen, tapferen, wortgewandten Heldin darin. So funktioniert ja Literatur. Aber das hier ist ein Tagebuch, in knapper, klarer Sprache mit gutem Blick für verstörende Details. „Es ist erst elf Uhr, doch es gab schon drei Fliegeralarme. Ich gehe nun jedes Mal in den Luftschutzkeller. Ich ziehe meine Winterklamotten und Gummigaloschen an und nehme mein kleines Köfferchen mit. Ich werde mich nun bis zum Kriegsende nicht mehr von ihm trennen, ich habe darin ein leeres Heft, Wowas Foto, Geld, zwei Taschentücher, eine Flasche mit Tee, Brot und ebendieses Tagebuch.“
Gelee und Katzenfleisch
Lenas gepflegte Melancholie aus Schultagen weicht einer fürs Überleben wichtigen Emsigkeit, und man bemerkt, wie sie schlagartig ihre Haltung ändert, ändern muss. Leningrad wird zur Festung, und Lena bildet die neue Wirklichkeit haarklein ab: die Schutzunterstände, die überall gebaut werden; die ersten Trümmer, die sie mit der neuen Freundin Tamara besichtigen geht; die Menschentrauben, die nicht hineinpassen und am Eingang verschüttet werden, „wahnsinnig geworden“. Als Sanitäterin sieht sie bald den ersten Toten, „so ein Junger, Sympathischer“, der kurz vor der Operation noch rauchte. Die Essensrationen werden kleiner.
Leningrad, durch Lenas Augen betrachtet, wirkt immer tonloser, menschenloser. Wie sie das in Momentaufnahmen beschreibt, ist gespenstisch. Keine Musik. Nur „der Hornist“, der durch die Lautsprecher Entwarnung gibt. Beide Mütter sterben, erst die leibliche, dann die Ziehmutter, deren Leichnam sie mit einem Schlitten zum Massengrab zieht, und Lena ist allein in dieser Stadt. „Wer lehrt mich jetzt das Leben? Ringsum fremde Leute, denen bin ich egal.“ Zum Schreiben ist sie in Decken eingehüllt. Einige Zeit gibt es noch Schule und dort portionsweise Gelee, einmal Katzenfleisch. Kino und Theater sind noch in Betrieb, aber für den Rückweg ist sie fast zu schwach. Dann gibt es im kältesten Winter weder Wasser noch Strom, manchmal nicht mal Brot. Straßenbahnen fahren lange nicht. Man hört mit Lena das beständige Ticken der Radios, die aus Lautsprechern Alarm melden - das „Leningrader Metronom“. Später in dieser langen Zeit steht sie dafür nicht mal mehr auf. Die Keller aufzusuchen kostet Kraft, und sie schreibt: „Sollen sie mich doch umbringen.“
Ein berührendes und eindrucksvolles Zeitdokument
Der Graf Verlag hat diesen Bericht sorgfältig ausgestattet mit Anmerkungen, Hintergrundinformationen sowie einem sehr persönlichen Vorwort der Schriftstellerin Lena Gorelik, die 1981 in Leningrad geboren wurde. Zusammen mit Gero Fedtke hat sie das Tagebuch aus dem Russischen übersetzt. Sie erzählt, wie die Blockade für sie als Nachgeborene eine Legende war, die den Kindern „Stolz“ wie „Schauder“ über den Rücken trieb. Die Blockade „war immer da“ und das Brot vor den Augen der Großmutter nicht wegzuwerfen. Aber die Erinnerung an das, was ihre Familie durchlebte, drohte vergessen zu werden.
Jetzt gibt es zu der bestehenden Literatur eine neue, eine wichtige und beklemmend nachhaltige, weil unverstellte Stimme aus diesen 872 Tagen. Muss man noch damit werben, dass „Lenas Tagebuch“ auch Befreiendes, Leichtes enthält? Lenas Zeilen über die Freude beim Kauf seltener, alter Ansichtskarten; das Grün im Mai, das sie wahrnimmt. Da wechselt sie einige Tage lang, durchaus literarisch ambitioniert, in die dritte Person und erzählt von sich selbst als Lena. Sie wohnt inzwischen bei Freunden und wartet auf die Ausreise. „Sie war fröhlich und fühlte sich gut.“ Dieser Perspektivwechsel ist irritierend, fast so, als probierte Lena Muchina ein neues Leben noch im alten aus. Da fühlt sie schon nichts mehr, nicht mal mehr Hunger, notiert sie.
Eine Schriftstellerin mit Werk wurde aus Lena Muchina nicht. Auch keine Zoologin, ihr „Herzenswunsch“. Sie arbeitete als Müllerin, als Mosaiklegerin und in der Industrie und blieb unverheiratet. Aber vielleicht hatte sie Tiere und Pflanzen, wie sie es sich im März 1941 ausmalte, in bildhafter Sprache, so dass man alles vor sich sieht. Das macht die Lektüre dieses Tagebuchs, dieses erstaunlichen Zeitdokuments berührend und eindrucksvoll.
Quelle: Besprechung in der FAZ vom 31.05.2013
Der Beitrag wurde
am Mittwoch, den 28. März 2018 um 22:43 Uhr
unter der Kategorie Vorstand veröffentlicht.
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