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Chronologie der Schlacht um Stalingrad »
In der Nacht rieselte es Flugblätter über der „Festung Stalingrad“. Keinem der 200 000 eingekesselten deutschen Soldaten blieben sie verborgen. Sie lagen überall: In den Schneewüsten und zwischen den dürren Gräsern draußen in der baumlosen Steppe zwischen Don und Wolga und in den Ruinen der langgestreckten Stadt. Generaloberst Woronow als Vertreter Stalins und Generalleutnant Rokossowskij, der Oberbefehlshaber aller russischen Truppen an der Don-Front, forderte die Sechste Armee auf, am 9. Januar 1943, 10 Uhr, die Waffen zu strecken.
Der Text des Ultimatums übertrieb nicht; Satz für Satz war die bittere Wahrheit: „Alle Hoffnungen auf Rettung Ihrer Truppen durch eine Offensive des deutschen Heeres vom Süden und Südwesten her haben sich nicht erfüllt. Die Ihnen zu Hilfe eilenden deutschen Truppen wurden von der Roten Armee geschlagen… Die deutsche Transportluftflotte, die Ihnen eine Hungerration an Lebensmitteln, Munition und Treibstoff zustellte, ist durch den erfolgreichen und raschen Vormarsch der Roten Armee gezwungen worden, oft die Flugplätze zu wechseln und aus großer Entfernung den Bereich der eingekesselten Truppen anzufliegen … Die Lage Ihrer eingekesselten Truppen ist schwer. Sie leiden unter Hunger, Krankheiten und Kälte. Der grimmige russische Winter hat kaum erst begonnen. Starke Fröste, kalte Winde und Schneestürme stehen noch bevor. Ihre Soldaten aber sind nicht mit Winterkleidung versorgt und befinden sich in schweren sanitätswidrigen Verhältnissen … Ihre Lage ist hoffnungslos und weiterer Widerstand sinnlos.“
Die sowjetischen Kapitulationsbedingungen klangen höchst ehrenvoll: Allen Angehörigen der Wehrmacht sollten Uniform, Rangabzeichen, Orden und persönliche Wertsachen, den höheren Offizieren auch der Degen belassen werden. Normale Verpflegung und ärztliche Hilfe wurden zugesagt, ja, allen Offizieren und Soldaten wurde garantiert, sie könnten nach dem Kriege in ihre Heimat zurückkehren oder in ein beliebiges Land reisen. Das war zu schön, um wahr zu sein. Zu tief wurzelte das Mißtrauen gegen den bolschewistischen Gegner, zuviel Haß hatten die deutschen Angreifer im russischen Volke gesät, als daß die Soldaten der 6. Armee auf milde Behandlung durch die Rote Armee hätten hoffen dürfen. Und ein Marsch nach Sibirien erschien keinem verlockend.
Dennoch – die Armeeführung erbat sich Handlungsfreiheit vom Führerhauptquartier, das zweitausend Kilometer entfernt in Ostpreußen lag. Hitler verbot die Kapitulation – und lieferte damit rund zweihunderttausend Menschen – unter ihnen auch Rumänen, Italiener und Kroaten – dem sicheren Verderben aus. Noch lange nach dem Krieg hat Generalfeldmarschall Erich von Manstein, damals Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Don, dem auch die 6. Armee unterstellt war, unmißverständlich diesen Entschluß Hitlers gebilligt, „weil derselbe zu jenem Zeitpunkt noch eine Notwendigkeit war, mochte diese – menschlich gesehen – auch noch so hart sein“, denn: „Die 6. Armee hatte – so aussichtslos auf längere Sicht auch ihr weiterer Widerstand sein mochte – im Rahmen der Gesamtlage noch, solange es irgend ging, eine entscheidende Rolle zu spielen. Sie mußte versuchen, solange wie möglich die ihr gegenüberstehenden Feindkräfte zu binden.“
Dieses Argument wird bis zum heutigen Tage immer wieder zur Rechtfertigung des Massensterbens bei Stalingrad hervorgeholt. Aber ist es stichhaltig? Gewiß: Wenn das sowjetische Oberkommando die sieben Armeen vor Stalingrad (280 000 Mann, 4000 Geschütze, 6300 Granatwerfer und eine Unmenge Panzer) schon freigehabt hätte, wäre vielleicht die gesamte, ohnehin schwer angeschlagene deutsche Südfront eingestürzt, wäre auch jene Million deutscher Soldaten, die sich südlich Stalingrad aus dem Kaukasus zurückzogen, der Vernichtung preisgegeben worden. Aber diese Gefahr war am 8. Januar offensichtlich nicht mehr gar so groß, sonst hätte sich kaum der Chef des Generalstabes, General Kurt Zeitzier, so dafür eingesetzt, den Führern der 6. Armee die Entscheidung selbst zu überlassen. Auch General Walter Warlimont, damals stellvertretender Chef des Wehrmachtsführungsstabes, scheint seine Zweifel zu haben; er meint zu dieser Frage: „Die Unwägbarkeiten des Krieges lassen ein sicheres Urteil auch darüber nicht zu.“
Eine Schnitte Brot pro Tag
Auf jeden Fall hat Adolf Hitler nie etwas anderes im Sinn gehabt als den „Kampf bis zur letzten Patrone“. Sein Prestige erlaubte es nicht, die Landbrücke zwischen Don und Wolga aufzugeben, hatte er sich doch öffentlich, vor den Ohren des ganzen Volkes, festgelegt, niemals von diesem Platz zu weichen. Selbst wenn er einsichtig gewesen wäre, hätte ein Diktator in seiner Stellung jemals zugeben können, daß seine von ihm verachteten militärischen Ratgeber doch recht gehabt hatten, als sie vor der leichtfertigen Annahme warnten, man könne diese riesige Armee durch eine Luftbrücke versorgen, bis Ersatz heran sei? Nachdem der deutsche Entlastungsangriff kurz vor Weihnachten sechzig Kilometer südlich Stalingrad steckengeblieben war, hatte Hitler die 6. Armee schon abgeschrieben: „Ich kann es auch nicht ändern“, fuhr er seinem menetekelnden Generalstabschef über den Mund. „Dann geht es eben über Menschenkraft.“
Aber derselbe Mann, der mit einer Handbewegung zweihunderttausend Menschen zum Sterben verurteilte, versicherte ihnen zum Neujahrsfest scheinheilig: „Die 6. Armee hat mein Wort, daß alles geschieht, um sie herauszuhauen!“ Den Panzergeneral Hube schickte er Anfang Januar mit der frohen Botschaft in den Kessel zurück, man werde im Frühjahr die Krise bei Stalingrad in einen großen Sieg verwandeln. Angeblich wurden aus dem Westen bereits SS-Panzerdivisionen für einen Gegenangriff zusammengezogen. Tatsächlich sind diese Panzer im März den sowjetischen Armeen überraschend in die Flanke gefahren – allerdings sechshundert Kilometer weiter westlich.
Generaloberst Friedrich Paulus, der Oberbefehlshaber der 6. Armee, hielt sich nun erst recht für verpflichtet, Stalingrad zu halten. Keiner der kommandierenden Generale im Kessel war dafür, der sowjetischen Kapitulationsaufforderung nachzukommen. Manstein (und mit ihm wohl auch jene Traditionspfleger der Bundeswehr, die ihm zum 80. Geburtstag einen Zapfenstreich bescherten) hält noch heute an der Devise fest, eine Armee dürfe nicht kapitulieren, solange sie noch irgendwie in der Lage sei zu kämpfen. „Die Aufgabe dieses Standpunkts würde das Ende des Soldatentums überhaupt bedeuten.“
Nur – war die 6. Armee denn noch zum Kämpfen imstande? Der „Rote Stern“ beschrieb schon Ende Dezember zutreffend die Situation der eingeschlossenen Deutschen: „Für sie gibt es keine Sonne. Sie haben 25 bis 30 Schuß Munition pro Tag und dürfen nur feuern, wenn sie angegriffen werden. Ihre Verpflegungsration besteht aus hundert Gramm Brot und ein wenig Pferdefleisch. Wie Wilde sitzen sie unter wollenen Decken in ihren steinernen Höhlen und nagen an einem Pferdeknochen.“ Radio Moskau ließ zum regelmäßigen Ticken einer Uhr monoton und mit Grabesstimme verkünden: „Alle sieben Sekunden stirbt in Rußland ein deutscher Soldat. Stalingrad – Massengrab.“
Bald nach Weihnachten häuften sich bei den Divisionsstäben die Meldungen von plötzlichen Todesfällen außerhalb der Kampfhandlungen. Ein Berliner Pathologe, der viele der Leichname auftauen ließ, faßte das Ergebnis seiner Untersuchung in nüchternen Worten zusammen: „Unter der Haut und um die inneren Organe kaum ein Läppchen Fettgewebes, im Gekröse eine wässerig-sulzige Masse, die Organe sehr blaß, statt roten und gelben Knochenmarkes glasige, zitternde Gallerte, die Leber gestaut, das Herz klein und braun, die rechte Herzkammer und der rechte Vorhof stark erweitert.“ Diagnose: Hunger, Wärmeverlust, Erschöpfung.
Die Luftwaffe schaffte es nicht
Tausende von Verwundeten warteten darauf, von einer der wenigen, braven „Ju 52“ ausgeflogen zu werden. Einer, dem beide Beine abgeschossen waren, schrieb in seinem letzten Brief aus Stalingrad: „Im Zelt liegen noch über achtzig Mann, draußen aber liegen ungezählte Kameraden. Durch das Zelt hört man ihr Schreien und Stöhnen, und keiner kann ihnen helfen … Neben mir an der Wand liegt ein Landser aus Breslau, der einen Arm ab und keine Nase mehr hat, und er sagte mir, daß er jetzt keine Taschentücher mehr gebrauchte. Als ich ihn gefragt habe, was er machte, wenn er weinen müßte, gab er mir die Antwort, alle hier, auch du und ich, kommen gar nicht mehr zum Weinen. Um uns werden andere bald weinen…“
So war der Zustand der Armee, die am 10. Januar den angekündigten sowjetischen Großangriff erwartete. Ohnmächtig mußten die Landser zusehen, wie die Russen ihre Geschütze und Stalinorgeln auffuhren. Punkt zehn Uhr vormittags erhob sich das schwerste Trommelfeuer des ganzen russischen Krieges. Auf 80 Kilometer Frontlänge griffen die Russen an. Von Norden, Westen und Süden drückten sie den Kessel ein. Nach wenigen Tagen waren Divisionen zu Kompanien zusammengeschmolzen. Alles strömte, zum Teil in panikartiger Flucht, nach Osten, den Flugplätzen zu und den Schutz verheißenden Ruinen der Stadt Stalingrad. Mangels Sprit mußten die Soldaten ihre schweren Waffen zurücklassen und in die Luft sprengen.
Am 15. Januar eroberten die Russen den wichtigsten und größten Flugplatz im Kessel – Pitomnik. Der Strom der geschlagenen Armee, besser, ihre armseligen Reste, wälzte sich nun weiter nach Gumrak, einem vom Schnee halbverwehten Flugfeld, das ebenfalls schon beschossen wurde. Im dichten Schneetreiben und bei Temperaturen bis zu dreißig Grad zogen abenteuerlich vermummte, abgestumpfte Menschen ihres Weges. Manche konnten sich kaum noch aufrecht halten. Russische Panzer und Tiefflieger hielten blutige Ernte. Tausende von Männern blieben liegen, Tausende von Lastwagen und Geschützen versperrten die freigeschaufelten Straßen – ein gräßlicher Anblick wie 1812 an der Beresina oder 1967 am Mitla-Paß.
Von nun an konnten die Russen getrost ihre Kräfte an andere Fronten abziehen: das waidwund geschossene Wild im Kessel von Stalingrad war ihnen sicher. General Tschuikow sprach geringschätzig von „zusammengetriebenen Hasen“. Die Armee Paulus sei keine Armee mehr, sondern ein eingekesseltes Gefangenenlager. Den Russen genügte es, wenn sie täglich um einen oder zwei. Kilometer vorankamen.
Am selben Tage, als das Herz der „Festung“, Pitomnik, zu schlagen aufhörte, beauftragte Hitler den Luftmarschall Milch, „die Versorgung der 6. Armee mit allen Mitteln sicherzustellen“. Milch brachte es tatsächlich fertig, noch über 300 Flugzeuge heranzuholen, aber diese letzte Kraftanstrengung kam zu spät, ebenso wie jene drei Himalaja-Forscher, die noch eilig herbeizitiert wurden – als „Spezialisten für Zusammensetzung und Transport konzentrierter Nahrungsmittel in schwierigen Verhältnissen und auf engstem Räume“. Am 25. Januar ging der letzte Flugplatz bei Stalingrad verloren; jetzt konnten die Flieger nur noch Versorgungsbomben abwerfen, die oft ihre Empfänger nicht erreichten.
Stalingrad war – es wird oft vergessen – ein fürchterlicher Aderlaß für die deutsche Luftwaffe: 488 Maschinen und tausend unserer besten Flieger – ein unersetzlicher Verlust. Immerhin hat die Luftwaffe noch 42 000 Verwundete und Spezialisten ausgeflogen. Doch aller Opfersinn und Wagemut reichten nicht aus, um das großspurige Versprechen des „Reichsmarschalls“ Hermann Göring zu erfüllen, der sich gegen den Rat und die Warnungen seiner erfahrenen Mitarbeiter und Feldoffiziere erboten hatte, für die Versorgung der 6. Armee aufzukommen. Der Tagesmindestbedarf der Eingeschlossenen war auf 500 Tonnen geschätzt worden, möglich nach der Kapazität der Luftwaffe war eine Leistung von 300 Tonnen, doch wegen der feindlichen Abwehr und der Witterungsunbilden wurden im Schnitt nur rund 100 Tonnen erreicht. An manchen Tagen erschien nicht ein einziges deutsches Flugzeug über Stalingrad.
Die letzte vage Hoffnung war geschwunden. Zorn und Enttäuschung machten sich Luft, als Paulus am 19. Januar einen Abgesandten der Luftwaffe empfing, der ihn beruhigen und zugleich Informationen einholen sollte. „Abwurf allein ist der Tod der Armee“, bedeutete ihm der Armeeführer. „Sie sprechen hier mit toten Menschen. Wir sind auf Befehl des Führers hiergeblieben. Die Luftwaffe hat uns im Stich gelassen und nicht das gehalten, was versprochen war.“ Und sein Chef des Stabes, General Arthur Schmidt, ging noch weiter: Dieses Verbrechen sei nicht wiedergutzumachen. Von einem Obersten, der am 23. Januar den Kessel als Kurier verließ, verabschiedete sich Schmidt mit den Worten: „Sagen Sie es überall, wo Sie es für angebracht halten, daß die 6. Armee von höchster Stelle verraten und im Stich gelassen worden ist.“
Einen Tag später, am 20. Januar, erreichten Hiobsbotschaften aus dem Kessel die Heeresgruppe und das Führerhauptquartier. „Grauenhafte Zustände im engeren Stadtgebiet, wo etwa 20 000 Verwundete unversorgt in Häuserruinen Obdach suchen. Dazwischen ebensoviel Ausgehungerte, Frostkranke und Versprengte, meist ohne Waffen, die im Kampf verlorengingen. Starkes Artilleriefeuer auf das ganze Stadtgebiet.“ Nach Empfang dieses Funkspruchs fand auch Feldnurschall von Manstein, es sei genug. In einem Ferngespräch von dreiviertel Stunden Dauer bat er das Führerhauptquartier um die Genehmigung zur Übergabe. Am selben Tag meldete ein Major von Zitzewitz, Kurier aus Stalingrad, Hitler persönlich: „Mein Führer, den Soldaten von Stalingrad kann man das Kämpfen bis zur letzten Patrone nicht mehr befehlen, weil sie physisch dazu nicht mehr in der Lage sind – und weil sie diese letzte Patrone nicht mehr haben.“ Doch Hitler blieb stur. „Der Mensch regeneriert sich schnell.“ Das war das einzige Wort, das Hitler auf das Massensterben an der Wolga noch verschwendete.
„Ich siehe hier auf Befehl“
Und die Generale im Kessel gehorchten weiterhin seinen Befehlen, obschon jeder Widerstand sinnlos geworden war. Immer gab es noch Stäbe, die Versprengte auffingen und ins Feuer zurückschickten oder aus den Kellern wankende Gestalten herausholten, die, oftmals ohne Maschinengewehre und Schanzzeug, den Feind von den Gefechtsständen fernhalten sollten. Die Armeeführer fanden nicht mehr heraus aus den selbstauferlegten Schranken militärischen Gehorsams. Alle murrten über die dilettantische Schlachtenlenkung des obersten Gefreiten, alle wußten, daß der Kampf aussichtslos war, doch keiner bäumte sich gegen den Wahnsinn auf, alle ertrugen verbissen und verbittert ihr Geschick.
Vergebens hatten etliche Verschwörer der deutschen Widerstandsbewegung gehofft, Paulus werde durch einen Ausbruch auf eigene Faust oder, als es dafür zu spät war, durch einen flammenden Aufruf das Fanal zum Aufstand gegen Hitler geben. Aber Paulus war nicht einmal ein großer Feldherr, geschweige denn ein Mensch, der über seine Kompetenzen hinauszudenken wagte. „Ich stehe hier auf Befehl“ – in diesen Worten liegt die Beschränkung und die Tragik des Feldmarschalls Paulus beschlossen.
Einige seiner Kommandeure drängten ihn, er solle doch wenigstens den einzelnen Offizieren und Soldaten freistellen, je nach der Lage zu handeln. Einer von ihnen war der kommandierende General des LI. Armeekorps, Träger eines berühmten preußischen Namens – der General der Artillerie Walther von Seydlitz-Kurzbach. Er hatte schon Ende November, in den ersten Tagen nach der Einschließung, den Durchbruch nach Westen gefordert. Er war nicht durchgedrungen und hatte – weiter gehorcht. Doch nun bäumte sich in ihm alles auf „gegen diesen Wahnsinn und diese gewissenlose Führung“. Er vermochte den Sinn der Soldatenehre nicht mehr zu finden, wenn sich wehrlose deutsche Soldaten von russischen Kanonen und Panzern im direkten Beschuß hinmetzeln ließen. Doch Paulus, wohl längst ein gebrochener Mann, der die Verantwortung nur noch widerwillig trug, konnte sich auch jetzt noch nicht zum Handeln aufraffen: „Ich tue nichts.“ Daraufhin stellte es Seydlitz den ihm noch verbliebenen Truppenresten anheim, die letzte Munition zu verschießen und zu kapitulieren. Zum Dank wurde er dafür noch seines Kommandos enthoben und, als er sich mit seinen Männern in Gefangenschaft begab, aus dem Rücken von anderen deutschen Soldaten beschossen.
Mittlerweile hatten die Russen den Kessel in drei Teile zerschlagen, die sie nun nach und nach ausräumten. In diesen letzten Januartagen begann sich zum erstenmal auch die Disziplin zu lockern. Nackter Selbsterhaltungstrieb sprengte die Fesseln militärischer Zucht. Deserteure und Marodeure streiften durch die Häuserruinen. Feldgendarmen hielten unter ihnen ein unerbittliches Gericht. Mehr als 360 Todesurteile wurden im Angesicht der Katastrophe noch vollstreckt – ein Vorspuk jener Endtage im Frühjahr 1945, als auch im Reiche selbst die Standgerichte wüteten. Wer wollte leugnen, daß auch jetzt noch die meisten der Überlebenden ihre Pflicht taten, so wie es ihnen aufgetragen war, auch wenn sie schon längst nicht mehr den Sinn begriffen. Aus den Augenzeugenberichten kennen wir viele Beispiele tapferen Sterbens und tollkühnen Muts, der freilich oft nur noch ein Mut der Verzweiflung war. Aber die Zehntausende erwarteten eher apathisch als heroisch das Ende; sie ließen sich wie Schafe zur Schlachtbank führen.
Dem deutschen Volke aber wurde nun Tag für Tag die Mär vom Heldentod der 6. Armee aufgetischt. Erst Mitte Januar, als die Luftversorgung zusammengebrochen war, hatte Hitler im Wehrmachtsbericht erstmals zugegeben, daß die Armee um ihr Leben kämpfte. Verheimlichen konnte er die Wahrheit ohnehin nicht mehr; zu viele hörten Feindsender, zu viele hatten Verwandte in Stalingrad, die entweder als Verwundete noch heimgekehrt waren oder seit vielen Wochen nichts mehr von sich hatten hören lassen.
Am 30. Januar, dem zehnten Jahrestag der nationalsozialistischen Machtübernahme, fiel dem großsprecherischen Göring, der selber so viel Schuld am Sterben der 6. Armee auf sich geladen hatte, die Aufgabe zu, vor den neuen Fahnenjunkern und darüber hinaus dem ganzen Volke das Heldenlied von Stalingrad anzustimmen. Große geschichtliche Vorbilder mußten, herhalten: die Nibelungen, die Goten und die 300 Spartaner, die unter Leonidas die Thermopylen gegen die Übermacht der Perser verteidigt hatten. Göring scheute sich nicht, das berühmte Epitaph auf die Krieger des Leonidas abzuwandeln auf die Kämpfer von Stalingrad: „Kommst du nach Deutschland, so berichte, du habest uns in Stalingrad kämpfen sehen, wie das Gesetz, das Gesetz für die Sicherheit unseres Volkes es befohlen hat.“ Manche Soldaten in Stalingrad haben diese Rede noch über Rundfunk mit angehört. Ihre Stimmung gab am besten ein Funkspruch wieder, der am selben Tage abging: „Vorzeitige Leichenreden unerwünscht.“
Hitler beförderte im letzten Augenblick Paulus noch zum Feldmarschall. („Ich wollte ihm die letzte Freude geben.“) Allen Ernstes glaubte er, ein deutscher Feldmarschall würde sich nicht lebend in die Hand des Feindes geben. Tatsächlich hatte sich bereits ein General in Stalingrad erschossen, ein anderer den Tod gesucht, indem er stehend freihändig mit dem Karabiner auf die anstürmenden Rotarmisten anlegte. Der kommandierende General des VIII. Korps, General Heitz, der noch auf dem Schlachtfeld zum Generaloberst befördert wurde, führte Reden, als wolle er sich unter den Trümmern seines Gefechtsstandes begraben lassen. Er befahl noch am 29. Januar: „Wer kapituliert, wird erschossen! Wer die weiße Flagge zeigt, wird erschossen!“ Und bis zuletzt gab es Landser, die solche Befehle ausführten – im Vertrauen auf ihre Führung. (Der Generaloberst ließ sich übrigens dann doch gefangen nehmen.)
Das Ende war menschlich-allzumenschlich – würdig war es nicht zu nennen. Paulus weigerte sich selbst dann noch, als die Russen vor seiner Tür standen, im Namen seiner Armee zu kapitulieren. Er ließ sich gewissermaßen „als Privatmann“ überrumpeln und, auf besondere Bitte seines Stabschefs, der um das leibliche Wohl des Marschalls besorgt war, in einem Auto abführen. Das war am 31. Januar 1943.
Nur im Nordabschnitt der Stadt, beim Traktorenwerk, wurde noch zwei Tage länger gekämpft, getreu dem letzten Befehl des „Führers“: „Ich erwarte, daß der Nordkessel von Stalingrad sich bis zum letzten hält.“ Jesco von Puttkamer hat berichtet, wie damals in einem der letzten zerschossenen Gefechtsstände der graue Oberst von Below vor einem General auf die Knie sank und ihn anflehte, Schluß zu machen. Es fruchtete nichts: „Wir können nicht die weiße Fahne ziehn. Sonst heißt es in der Welt, der deutsche Soldat kapituliert.“ Mit Tränen in den Augen erwiderte der Oberst: „Es geht nicht um die Weltmeinung, es geht um das Leben unserer Soldaten.“
Hitlers Tränen
Niemand weiß genau, wieviel Soldaten an der Wolga ihr Leben ließen. Es waren mindestens 80 000 – die Russen zählten 147 200. In Gefangenschaft zogen noch 91 000, unter ihnen ein Feldmarschall, ein Generaloberst, mehr als 20 Generale und fast 2500 andere Offiziere. Von ihnen haben kaum 6000 die Heimat wiedergesehen. Zu Tausenden kamen die Gefangenen auf den Märschen durch die vereiste Steppe um, zu Tausenden erlagen sie im Lager von Beketowka dem Fleckfieber.
Adolf Hitler hatte Tränen in den Augen, als er von der Kapitulation der 6. Armee hörte. Er weinte nicht um seine zweihunderttausend Soldaten, nein, er war nur verzweifelt über das Verhalten jenes Generals, dem er in letzter Stunde noch den Marschallstab verliehen hatte: „Wenn man sich vorstellt, daß eine Frau den Stolz hat, daß sie, weil sie nur ein paar beleidigende Worte hört, hinausgeht, sich einsperrt und sich sofort totschießt, dann habe ich vor einem Soldaten keine Achtung, der davor zurückschreckt, sondern lieber in Gefangenschaft geht. Im deutschen Reich haben im Frieden jährlich 18 000 bis 22 000 Menschen den Freitod gewählt, ohne irgendwie in einer solchen Lage zu sein. Hier kann ein Mann sehen, wie 50 000, 60 000 seiner Soldaten sterben und mit Tapferkeit bis zum letzten sich verteidigen, – wie kann er sich da den Bolschewiken ergeben?! Ach, das ist – !“
Hitler hat, in ähnlicher Lage wie Paulus, zur Pistole gegriffen. „Die Pistole – das ist doch eine Leichtigkeit!“ In der Tat: Es war die einfachste Art, mit der Verantwortung für die größte Niederlage des deutschen Volkes fertigzuwerden. Aber die Frage nach der Verantwortlichkeit in Stalingrad und in Hitlers Krieg überhaupt ist damit noch nicht beantwortet.
Quelle: Karl-Heinz Janßen, in: Die Zeit, 12. Jan.1968, aktualisiert am 21. Nov. 2012,
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am Montag, den 22. Januar 2018 um 20:28 Uhr
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