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« Schlacht um Stalingrad  |   Winterschlacht 1941/42 »

Rußland Krieg - Der Kessel von Stalingrad -

Als die sowjetischen Stalingrad -Soldaten am 19. November in der Ferne heftiges Geschützfeuer hörten - und zwar zwischen 6 und 7 Uhr morgens -, da wußten sie, was dieses Geschützfeuer zu bedeuten hatte: daß sie nicht gezwungen sein würden, Stalingrad den ganzen Winter hindurch zu verteidigen. Sie steckten die Köpfe aus den Unterständen und lauschten.

Und am Abend des 22. November erfuhr auch die russische Bevölkerung von der großen sowjetischen Gegenoffensive:

In einer Sondermeldung wurde mitgeteilt, russische Truppen hätten vor ein paar Tagen nordwestlich und südlich Stalingrads angegriffen und die beiden Eisenbahnlinien, auf denen der deutsche Nachschub nach Stalingrad rollte, abgeschnitten.

Die Begeisterung in Moskau war groß, und überall hörte man: “Natschalot” (”Es geht los!”)

Wesentliche Umstände kennzeichneten diese zweite und entscheidende Phase der Schlacht um Stalingrad:

- Die drei russischen Armeegruppen verfügten zusammen über rund 1 050 000 Mann gegenüber einer etwa gleichen Anzahl feindlicher Truppen, über 900 Panzer gegen 700 deutsche, über 13 000 Geschütze gegen 10 000 und über 1100 Flugzeuge gegenüber 1200. (Andererseits war dort, wo die Hauptschläge geführt wurden, die russische Überlegenheit so überwältigend, wie sie nie zuvor während dieses Krieges gewesen war: dreifache Überlegenheit an Soldaten und vierfache Überlegenheit an Material, speziell an Artillerie.)

- Die Pläne für die Gegenoffensive waren seit August “kollektiv” von Stalin, Schukow und Wassiljewski in Zusammenarbeit mit den Befehlshabern der örtlichen Armeegruppen Watutin, Rokossowski und Jeremenko - ausgearbeitet worden. Im Oktober und November hatten Wassiljewski und Schukow die Gebiete besucht, in denen die Operationen stattfinden sollten.

- Die Vorbereitung der Offensive, die sich unter strikter Geheimhaltung vollzog, war eine glänzende organisatorische Leistung. Schon Wochen vor Beginn des Angriffs wurde jeder Postverkehr zwischen den Soldaten der drei Armeegruppen und ihren Familien unterbrochen.

Die Offensive setzte am 19. November um 6.30 Uhr morgens auf breiter Front nordwestlich von Stalingrad mit einer massierten Artillerievorbereitung ein.

In viereinhalb Tagen war die Einschließung der Deutschen in Stalingrad vollkommen.

Der “Ring” war weder sehr stark - zwischen 30 und 50 Kilometer - noch sehr solide; das nächste Ziel war ganz offensichtlich, ihn zu verstärken. In den letzten Novembertagen versuchten die Deutschen vom Westen her den Ring zu durchstoßen, doch mißlang ihnen das.

Die größte Sorge der Russen war, daß die 6. Armee (Paulus) und Einheiten der 4. Panzerarmee versuchen könnten, auszubrechen und Stalingrad aufzugeben. Es gab jedoch keine Anzeichen dafür.

Der “United Press”-Korrespondent in Moskau, Henry Shapiro, erzählte mir einige interessante Details über diese große Schlacht. Er hatte, ein paar Tage nachdem der Ring geschlossen war, die Erlaubnis zu einem Frontbesuch erhalten. Shapiro berichtete:

“In der Nähe der Front war die Eisenbahnlinie von den Deutschen stark bombardiert worden; die Bahnhöfe waren zerstört, und die militärischen Befehlshaber sowie das Eisenbahnpersonal regelten den Eisenbahnverkehr von Unterständen und zerbombten Häusern aus. Auf der ganzen Strecke floß ständig ein riesiger Strom von Waffen zur Front, Stalinorgeln, Geschütze, Panzer, Munition - und Soldaten.

“Der Verkehr ging Tag und Nacht weiter, und auf den Straßen herrschte dasselbe Bild. Nachts nahmen die Transporte sogar zu. Britische und amerikanische Waffen waren nur selten zu sehen, gelegentlich ein Jeep oder ein Panzer. Rund 95 Prozent des Materials waren russischer Herkunft. Allerdings stammte ein großer Teil der Verpflegung aus amerikanischen Lieferungen.

“Als ich nach Serafimowitsch kam, waren die Russen dabei, nicht nur den Ring um Stalingrad zu festigen, sondern jetzt auch einen zweiten Ring zu ziehen; ein Blick auf die Karte zeigte deutlich, daß die Deutschen in Stalingrad unausweichlich in der Falle saßen … Soldaten und Offiziere waren von einem Selbstvertrauen, wie ich es nie zuvor bei der Roten Armee bemerkt hatte, auch nicht während der Verteidigung Moskaus …

“Je näher ich Stalingrad kam, um so mehr begegnete ich deutschen Gefangenen … Die Steppe bot einen gespenstischen Anblick; sie war voll toter Pferde, einige Tiere waren erst halb tot und standen auf drei steifgefrorenen Beinen und schüttelten das vierte, das gebrochen war. Während des russischen Durchbruchs waren zehntausend Pferde getötet worden.

“Die ganze Strecke war übersät mit Kadavern, zerschossenen Protzen, Munitionswagen, Panzern und Geschützen - deutscher, französischer, tschechischer, sogar britischer Herkunft … und unendlich vielen Leichen, rumänischen und deutschen. Die Leichen der gefallenen Russen wurden zuerst beerdigt …

“General Tschistjakow, dessen Hauptquartier ich schließlich in einer Ortschaft südlich von Kalatsch erreichte - das Dorf lag zeitweilig unter Artilleriefeuer -, meinte, die Deutschen hätten noch ein paar Tage zuvor leicht ausbrechen können …

“Die deutschen Gefangenen, die ich sah, waren zum größten Teil junge Burschen, die sich in elender Verfassung befanden. Offiziere sah ich nicht. Bei 30 Grad Frost trugen sie gewöhnliche Mäntel; um ihre Schultern hatten sie Wolldecken gelegt. Über Winterkleidung verfügten sie praktisch nicht. Die Russen andererseits waren recht gut ausgestattet - mit Filzstiefeln, Schaffellmänteln und warmen Handschuhen. Moralisch schienen die Deutschen völlig geschlagen. Sie konnten nicht verstehen, was geschehen war …

Der gescheiterte Entsatz

Der ehrgeizige russische “Plan Saturn”, den das Oberste Kommando am 3. Dezember gutgeheißen hatte, zielte zunächst darauf ab, die in Stalingrad eingeschlossenen deutschen Verbände zu liquidieren und dann das Gebiet innerhalb des Donbogens, einschließlich Rostows, zu besetzen und die deutschen Verbände im Kaukasus abzuschneiden.

Der erste Versuch der Deutschen Ende November, von Westen her nach Stalingrad durchzubrechen, war gescheitert. Das deutsche Oberkommando formierte daraufhin seine Kräfte um.

Da die Zeit drängte, entschloß sich Manstein, nur mit den bei Kotjelnikowo konzentrierten Verbänden, der unter der Führung von General Hoth stehenden, neuaufgestellten 4. Panzerarmee, anzugreifen. Sie hatte den kürzesten Weg bis Stalingrad zurückzulegen. Sie hatte auf diesem Weg nicht das Hindernis des Don zu überwinden.

Am 12. Dezember stieß Hoth mit einigen hundert Panzern auf schmaler Front entlang der Eisenbahn Kaukasus-Stalingrad vor. Am 19. Dezember erreichten die Deutschen, die von Hunderten von Bombern unterstützt wurden, den Myschkowa-Fluß, die letzte natürliche Barriere vor Stalingrad. Nachdem sie auch diesen Fluß überschritten hatten, konnten sie, nach Mansteins Worten, bereits “den Widerschein des Feuers an der Front um Stalingrad” sehen.

Aber das war auch alles, was sie von Stalingrad sahen. Das russische Oberkommando stellte den “Plan Saturn” den Plan zur Liquidierung des Stalingrad-Kessels, zurück und gab Anweisung, die Panzerkräfte Hoths und auch die deutschen Verbände im Raum Tormossin zu vernichten.

Heiligabend griffen die Russen mit Panzern und Flugzeugen an und trieben die Deutschen bis zum Axai-Fluß zurück, wo sie neue Stellungen bezogen. Jetzt aber führten die russischen Verbände immer schwerere Schläge, und die Deutschen mußten bis Kotjelnikowo zurückweichen, das sie am 29. Dezember aufgaben. Die Überreste von Mansteins Verbänden zogen sich hastig über den Manytsch -Fluß zurück. Der Fluß liegt etwa hundert Kilometer südwestlich von Kotjelnikowo, wo Hoths Verbände am 12. Dezember zu ihrer Offensive angetreten waren.

Der Versuch, nach Stalingrad durchzubrechen, kostete nach russischen Darstellungen die Deutschen 16 000 Tote und einen hohen Prozentsatz ihrer Bestände an Panzern, Geschützen und Fahrzeugen.

Eine Frage, die die Russen damals und noch lange Zeit danach beschäftigte, war die, warum Paulus nicht versuchte auszubrechen und sich mit den zum Entsatz herangeeilten Divisionen, die nur 40 Kilometer entfernt standen, zu vereinigen oder warum er nicht zumindest durch einen Gegenangriff deren Vormarsch auf Stalingrad erleichtert hatte.

In den vier Tagen, zwischen dem 19. und 23. Dezember, hätte Paulus, während die Gruppe Hoth die Brückenköpfe am Nordufer der Myschkowa hielt, mit einiger Aussicht auf Erfolg den Ausbruch versuchen können.

Manstein dachte an zwei verschiedene Operationen: erstens das Unternehmen “Wintergewitter”, das darauf abzielte, zwischen der Gruppe Hoth und der Armee Paulus eine Verbindung herzustellen und so eine neue Nachschubmöglichkeit zu schaffen, da die Luftversorgung des Kessels so gut wie ausgefallen war; zweitens das Unternehmen “Donnerschlag”, den Ausbruch aller in Stalingrad eingeschlossenen Verbände.

Paulus gab zu bedenken, daß er für die Vorbereitung beider Operationen mehrere Tage brauche. Seine Truppen seien in äußerst schlechter physischer Verfassung, und er benötige Verpflegung und andere Nachschubgüter (”gekürzter Verpflegungssatz für zehn Tage für 270 000 Mann”); sein Treibstoffvorrat sei äußerst gering; zunächst müßten 8000 Verwundete evakuiert werden.

Ob es nun eine Chance für den Ausbruch gab oder nicht - jedenfalls haben Paulus und Manstein die entscheidenden vier Tage zwischen dem 19. und 23. Dezember verstreichen lassen, nachdem sie von Hitler nicht die Erlaubnis erhalten hatten, Stalingrad aufzugeben.

“Gräberchen” in der Steppe

Am 1. Januar 1943 waren die Deutschen im Kessel von Stalingrad einem Oval, das in west-östlicher Richtung etwa 70 Kilometer und in nordsüdlicher Richtung etwa 22 Kilometer maß - nunmehr bereits über sechs Wochen lang abgeschnitten.

In der ersten Januarhälfte hatte ich Gelegenheit, mit einer kleinen Gruppe von Korrespondenten auf jener phantastischen Eisenbahnstrecke östlich der Wolga zu reisen, die monatelang der einzige Nachschubweg für die sowjetischen Truppen bei Stalingrad war.

Es war neblig und feucht, als wir am 3. Januar Moskau verließen.

Am nächsten Morgen kamen wir nach Tambow und am Nachmittag nach Kirsanow. Der Bahnsteig war überfüllt. Vor dem Bahnhof standen Gruppen junger Soldaten; einige von ihnen trugen ganze Bündel nagelneuer Gewehre. Viele von ihnen mochten erst um die achtzehn sein und waren offenbar zum erstenmal von zu Hause fort. Auch ältere Frauen waren da. Viele von ihnen weinten, und ein paar machten das Kreuzzeichen, als sie ihre Söhne zum Abschied küßten.

In Saratow war es am nächsten Morgen sonnig und sehr kalt - 25 Grad unter Null. Es lag tiefer Schnee.

Die Nacht über war der Zug mit beträchtlicher Geschwindigkeit gefahren, und wir befanden uns jetzt in den weiten, wasserlosen Steppen des Gebietes jenseits der Wolga.

Auf einer kleinen Station sprach ich mit einer Gruppe von Eisenbahnern. Ein älterer Mann aus Tomsk war dabei, ein Sibirier mit langem, grauem Schnurrbart und faltigem Gesicht:

“Im Oktober waren wir hier mittendrin”, erzählte er. “Ich kann Ihnen nicht sagen, wie oft wir bombardiert wurden, es war schon oft die Hölle. Sehen Sie”, er deutete auf einen umgestürzten Wagen, “ich fuhr diesen Zug. Wir hatten Glück an diesem Tag. Drei Volltreffer auf meinen Zug. Er flog in die Luft. Nur die Maschine und der erste Wagen kamen davon, das übrige wurde zerstört.”

Ich sah die Strecke entlang. Dort lagen noch weitere Waggonwracks und auch Lastwagen und Panzer, die offenbar auf dem Zug transportiert worden waren.

“Kamen viele Leute dabei um?” “Fünfunddreißig”, sagte der Mann. “Fünfunddreißig Eisenbahner und noch drei Soldaten. Ihre Gräberchen sind dort drüben”, sagte er und wies nach Osten. Eigenartigerweise sagte dieser harte Sibirier nicht “Mogily”, sondern benutzte die zärtliche Verkleinerungsform “Mogilki” - Gräberchen.

Lange Zeit fuhren wir quer durch die Steppe, in der es kaum ein Zeichen menschlichen Lebens gab, nur dann und wann ein paar lehmfarbene Kirgisenhütten.

Wieder eine Station mit niedrigen Lehmhütten. Ein junger russischer Soldat mit wettergegerbtem Gesicht und geröteten Augen trat auf uns zu und fragte nach Zeitungspapier, um sich Zigaretten drehen zu können. Er erzählte, er habe gehört, daß Zymljanskaja am Don und Naltschik im Kaukasus befreit worden seien. Er sei soeben von Stalingrad gekommen, wo er zwei Monate lang gewesen sei.

“Jetzt sitzen die Fritzen wie Ratten in der Falle”, sagte er. “Aber die Swolotschi sind immer noch frech, brüllen ‘Russ sdawais!’ (ergib dich, Russe!), doch die Dinge laufen gut. Noch können sie bei Nacht mit Transportflugzeugen Verpflegung abwerfen, aber wenn sie versuchen, am Tag zu fliegen, schießen wir jedes dieser verdammten Flugzeuge herunter.”

Mit der Eisenbahn konnten wir bis Leninsk fahren, etwa 50 Kilometer von Stalingrad entfernt.

Am Nachmittag fuhren wir mit dem Wagen durch das Wolga-Delta hinüber nach Raigorod. Der Verkehr war stark; viele Armeelastwagen waren unterwegs und hie und da ein Bauernschlitten. Einmal sahen wir einen Schlitten, der von einem Kamel gezogen wurde. Viele Pferdekadaver lagen umher - halb verwest, aber steifgefroren.

Man erlaubte uns noch nicht, nach Stalingrad hineinzufahren. Aber jetzt waren wir nur noch ein paar Kilometer entfernt, und als der Abend kam, konnten wir im Westen einen roten Schein am Himmel sehen.

Schließlich erreichten wir die Wolgabrücke, etwa 20 Kilometer südlich von Stalingrad. Ein paar schwache Lichter flackerten in der Finsternis. Wir fuhren über eine Pontonbrücke, die flach auf dem Eis lag.

In Raigorod wurde uns ein von der Armee beschlagnahmtes Haus zugewiesen. Nach dem Essen besuchte uns Generalmajor Popow. Das war unser erster Kontakt mit dem Kommando der Stalingrad-Front. Er war einer jener Männer, die mitgeholfen hatten, einen großen Teil von Jeremenkos Armee, die von hier aus am 20. November gegen Kalatsch vorgestoßen war, über die Wolga zu bringen.

“Unser schwierigstes Problem war es, Stalingrad selbst zu versorgen. Das war von hier aus nicht möglich; es mußte direkt vom gegenüberliegenden Ufer aus geschehen. In den zwei Wochen, bevor das Eis der Wolga fest war, krochen Hunderte von Soldaten auf dem Bauch über die dünne Eisschicht und zogen hinter sich kleine Schlitten mit ein paar Munitionskästen her - soviel wie das Eis eben tragen konnte. Der Feind beschoß den Fluß, aber trotzdem kamen die meisten von ihnen hinüber. Jetzt ist das Eis auf der Wolga stark genug, um Lastwagen und Pferdefuhrwerke zu tragen, wenn es auch noch keine Panzer aushält. Aber wir haben ja inzwischen eine Menge Brücken.”

“Matka” und die “Fritzen”

Am 7. Januar 1943 durchquerten wir im Schneesturm die flach hingestreckte und unbewohnte Kalmückensteppe. Es schneite heftig, doch war es nicht besonders kalt - zwischen minus fünf und minus zehn Grad. Wir hatten unsere Autos mit einem klapprigen alten Bus vertauscht.

In der Mitte stand ein kleiner eiserner Ofen - eine Burschuika -, den Gawrila, ein älterer, grobgesichtiger und unrasierter Muschik aus dem Norden Rußlands, gewissenhaft mit kleinen Holzstücken fütterte. Gelegentlich drangen dicke Rauchwolken aus dem Ofen und vermischten sich mit den Abgasen, die vom Auspuff durch die halbzerbrochene rückwärtige Tür in den Bus strömten.

Das ganze Gefährt war ein überzeugendes Symbol für den Mangel an Kraftfahrzeugen, unter dem die Rote Armee nach wie vor litt.

Schutowo war ein freundlicher Ort, mit Gärten und kleinen russischen Häusern.

Zwei etwa zehnjährige Jungen standen in unserer Nähe. Der eine trug eine viel zu große Schaffellmütze, die ihm tief über die Ohren fiel, der andere ein Paar Wehrmachtschuhe, die ihm um sechs Nummern zu groß waren. “Woher habt ihr das alles?” fragte ich. “Meine Mütze habe ich von einem toten Rumänen”, sagte der erste stolz “Und diese Schuhe?”

“Oh, die sind von einem toten Fritz, er liegt drüben im Obstgarten, möchten Sie ihn sehen?”

Ich folgte den beiden auf einem schmalen Pfad. Zwischen den Apfelbäumen lag der tote Deutsche. Sein Gesicht war mit Schnee bedeckt, aber seine Füße, rot und glatt wie die einer Wachsfigur, waren nackt. Der Tote hatte keinen Mantel an, nur einen gewöhnlichen Waffenrock mit Hoheitsadler und Hakenkreuz

“Warum bringt man ihn nicht fort?” fragte ich.

“Die Soldaten werden ihn schon einmal mitnehmen, schätze ich”, sagte der mit den Schuhen, “sie haben auch die anderen Fritzen hier herum eingesammelt. Er stört nicht bei dem kalten Wetter.”

Leichen gehörten für ihn zum Alltag, und es gab für ihn nur gute und schlechte Leichen.

Ein paar Tage später hörte ich, daß in einer, Ortschaft am Don die Kinder einen gefrorenen Deutschen als Schlitten benutzten, um von einem Hügel hinunterzurodeln …

In Kotjelnikowo, einer größeren Stadt mit rund 25 000 Einwohnern, hielten wir uns ungefähr eine Woche lang auf. Die Deutschen hatten die Stadt vom 2. August bis zum 29. Dezember besetzt gehalten. Kotjelnikowo war während der ganzen Besatzungszeit Frontgebiet gewesen, und offenbar hatte die volle Autorität über dieses Gebiet bei der Wehrmacht gelegen. Dieser Umstand wie auch die Tatsache, daß man die Gegend als Kosakengebiet betrachtete, führte wohl dazu, daß sich die Deutschen hier ziemlich gemäßigt aufführten.

Mein Kollege Edgar Snow und ich wurden in einem kleinen Holzhaus einquartiert. Es gehörte einer Volksschullehrerin, die hier mit ihrer gebrechlichen alten Mutter und ihrem einzigen Kind, einem fünfzehnjährigen Jungen namens Gai, lebte.

Was die Leute mir erzählten, war nicht, wie anderswo, die Geschichte deutscher Grausamkeiten: Sie erzählten einfach von ihrer Erbitterung und von den Erniedrigungen, die sie durch die Deutschen erfahren hatten.

“Das war ein Leben in diesen letzten fünf Monaten! Erst hatten wir ein paar Rumänen hier und dann die Deutschen eine Panzerbesatzung von fünf Mann. Rauhe, unangenehme Leute. Sie haben eben in uns ihre Feinde gesehen, vermute ich. Ich weiß nicht, wie sie sich vielleicht in Friedenszeiten verhalten hätten.”

“Und wie verlief nun Ihr Leben?”

“Man kann es kaum Leben nennen. Wir hatten sehr wenig zu essen, zweihundertfünfzig Gramm Mehl am Tag pro Person sonst nichts. Ich arbeitete für den rumänischen Offizier, der zunächst hier wohnte. Er gab mir für einen ganzen Tag Arbeit nur ein halbes Brot. Schändlich wenig. Aber ich glaube, die Rumänen hatten selbst nicht viel, ja, manche rumänische Soldaten verlangten sogar von uns noch Lebensmittel. Ich gab ihnen eine Scheibe Brot, das war das beste. Sie hätten es sich ohnehin genommen.

“Die Deutschen sind ein stolzes Volk ganz anders als die Rumänen. Gelegentlich schenkten sie mir etwas, eine Dose Fisch oder Zigaretten - aber nicht viel … Ich mußte für sie den ganzen Tag waschen, schrubben, Wasser holen. Es war ein Sklavenleben.

“Gai, mein Junge, die Babuschka und ich mußten in der kleinen Küche hausen. Die fünf Deutschen wohnten hier in diesem Raum. Ein paar schliefen im Bett, die anderen auf dem Fußboden. Sie hatten eine Menge zu trinken und zu essen, und zunächst dachten sie wohl, sie würden immer hier bleiben.

“Am Morgen schrien sie immer: ‘Matka, Wasser zum Waschen!’ Sie nannten jede Frau Matka!

“Mitte Dezember sagte einer von ihnen: ‘Russ nicht zurück, wir haben ihn achtzig Kilometer weit getrieben.’ Tatsächlich war kein Feuer mehr zu hören. Aber an 28. Dezember sagte ein anderer Russ kommt zurück.

Wissen Sie, man will leben, besonders wenn man einen Jungen hat, für

den man sorgen muß. Deshalb ließ ich nicht erkennen, wie froh ich war. Vier von ihnen gingen, ohne daß sie ein Wort sagten, nur der fünfte sagte: ‘Auf Wiedersehen, Matka.’ Sie waren sehr mürrisch. Aber sie waren gar nicht so schlecht, diese fünf Deutschen. Nur, sie hielten uns eben für ihre Sklaven.

“In anderen Häusern ging es viel schlimmer zu. Die Rumänen waren fürchterlich. Sie konnten einfach unsere Frauen nicht in Ruhe lassen. Es gab viele Fälle von Vergewaltigungen in der Stadt. Ich habe aber nichts davon gehört, daß jemand erschossen worden wäre. Dreißig oder fünfzig Leute wurden von den Deutschen mitgenommen. Vielleicht gingen sie auch freiwillig.”

Am nächsten Morgen unterhielten wir uns mit Gai, Jelena Nikolajewnas fünfzehnjährigem Sohn. Er war sehr groß, aber ungewöhnlich mager. Sein offenes Gesicht verriet Intelligenz. Er sprach ein wunderbares Russisch mit klarer, silberner Stimme:

“Von mir nahmen die Deutschen kaum Notiz. Manchmal fragten sie mich: ‘Wo ist dein Vater?’ Wenn ich antwortete, er sei in der Roten Armee, sahen sie bös drein, sagten aber nichts.”

“Sagten sie, welche Art von Regierung sie hier einsetzen wollten?”, fragte ich Gai.

“Ja, sie sagten: ‘Jedermann soll für sich selbst arbeiten. Schluß mit den Kolchosen und dem Kommunismus. Wir wollen nicht hierbleiben; wir sind nur gekommen, um euch von den Juden und den Bolschewisten zu befreien.’ Es waren diese Panzerleute. Sonderbare Burschen.

“Sie hätten sie Weihnachten sehen sollen. Da waren alle ganz rührselig. Aus Deutschland hatten sie kleine Pakete bekommen. Sie zündeten einen kleinen Christbaum aus Papier an und aßen riesige Kuchen und öffneten Dosen und Weinflaschen, wurden betrunken und sangen sentimentale Lieder … Sie hatten vor niemandem Respekt. Ungeniert zogen sie sich vor Frauen aus. Wir waren nur ein Haufen Sklaven …”

Die Einnahme Kotjelnikowos durch die Deutschen am 2. August war so schnell gekommen, daß vorher nur ungefähr ein Drittel der Bevölkerung hatte evakuiert werden können, und das unter furchtbaren Bedingungen. Viele waren auf der Eisenbahn den Bomben oder auf den Straßen dem Maschinengewehrbeschuß feindlicher Flugzeuge zum Opfer gefallen.

Wie Genosse Terechow berichtete - der Chef der Zivilverwaltung von Kotjelnikowo, der sein Amt am Tag nach der Befreiung der Stadt wieder übernommen hatte -, waren vier Personen von den Deutschen erschossen worden, weil sie einen sowjetischen Offizier versteckt hatten. Rund dreihundert, vornehmlich junge Leute, hatte man als Zwangsarbeiter nach Deutschland deportiert.

Manche, sagte Terechow, hatten freiwillig mit den Deutschen kollaboriert und waren mit ihnen abgezogen. Andere, darunter einige Eisenbahner, waren zwangsweise zur Polizei gesteckt worden, hatten sich aber, obwohl sie “gewisse” Schwankungen durchgemacht hätten, letzten Endes den Sowjets gegenüber loyal gezeigt.

Die ganze erste Januarhälfte hindurch fiel Schnee, aber das Wetter war relativ mild. Erst in der zweiten Januarhälfte und in den ersten Februartagen, als sich das Stalingrad-Drama seinem Ende näherte, wurde der Frost unerträglich: 30 bis 40 Grad unter Null.

14 Tage später kehrte ich in den Raum Stalingrad zurück, diesmal nach Stalingrad selbst.

Die Vernichtung der Deutschen

Die Deutschen saßen hoffnungslos in der Falle. Die Armee Paulus war seit dem 23. November eingeschlossen. Ihre Vorräte gingen zur Neige. Mitte Dezember begannen die Eingeschlossenen die restlichen Pferde der rumänischen Kavalleriedivision zu verzehren.

Der zunehmende Munitionsmangel auf der deutschen Seite war für die Verbände der russischen 62. Armee, die immer noch die Stalingrader Brückenköpfe hielten, von enormer Bedeutung. Man konnte jetzt bei hellem Tageslicht in großen Kesseln warme Verpflegung für die Soldaten in der vordersten Linie, kaum vierzig Meter von den deutschen Stellungen entfernt, heranschaffen. Auch- ganze Konvois von Pferdeschlitten konnten jetzt bei Tag sicher die Wolga überqueren.

Über die eingeschlossenen Deutschen schrieb der Schriftsteller Grossmann Ende Dezember im “Roten Stern”:

“Für sie gibt es keine Sonne. Sie haben 25 bis 30 Schuß Munition pro Tag und dürfen nur feuern, wenn sie angegriffen werden. Ihre Verpflegungsration besteht aus 100 Gramm Brot und ein wenig Pferdefleisch. Wie Wilde sitzen sie unter wollenen Decken in ihren steinernen Höhlen und nagen an einem Pferdeknochen … Sie erleben furchtbare Tage und Nächte. Hier in den finsteren, kalten Ruinen der Stadt, die sie zerstört haben, ereilt sie die Vergeltung; sie ereilt sie unter den grausamen Sternen der russischen Winternacht.”

Die Deutschen in Stalingrad waren hoffnungslos isoliert. General Woronow, der “Vertreter des Hauptquartiers des Oberkommandos der Roten Armee”, und General Rokossowski schickten am 7. Januar an Generaloberst Paulus ein Ultimatum. Sie nannten für die Einstellung der Kampfhandlungen und die Entgegennahme der Kapitulation der Deutschen die üblichen Bedingungen.

Schließlich enthielt das Ultimatum Anweisung, wo sich die Unterhändler von Paulus in einem Personenwagen mit weißer Fahne am 9. Januar, zehn Uhr morgens, einzufinden hätten. Es schloß mit der Warnung, daß im Falle der Zurückweisung “die Rote Armee und die Rote Luftwaffe gezwungen sein würden, die eingeschlossenen deutschen Truppen auszulöschen”.

Das Ultimatum wurde abgelehnt, allerdings nicht auf der Stelle.

Später erzählten uns russische Offiziere in Stalingrad, daß nach der Überreichung des Ultimatums für kurze Zeit eine unheimliche Ruhe eingetreten sei und die Geschütze auf beiden Seiten geschwiegen hätten. Nicht nur die offiziellen sowjetischen Unterhändler, sondern auch andere Russen - darunter ein Stabsoffizier, den ich kannte - durchquerten das Niemandsland. Sie unterhielten sich mit den deutschen Soldaten und drängten sie, die Waffen niederzulegen. Aber Hitler wollte von einer Kapitulation nichts wissen.

Am 10. Januar um acht Uhr morgens begann der russische Angriff mit einem Trommelfeuer aus 7000 Geschützen und Werfern an der Süd- und Westseite des Kessels. Nach einer Stunde traten russische Panzer und Infanterie zum Angriff an. Die Deutschen, die das ihnen verbliebene Gebiet stark befestigt hatten, leisteten verzweifelten Widerstand.

Am 17. Januar stellte das russische Oberkommando Paulus eine neue Kapitulationsaufforderung zu. Mindestens zwei deutsche Generale - von Seydlitz und Schlömer - traten dafür ein, das Angebot anzunehmen; doch hatte Paulus dazu keine Vollmacht.

Am 22. Januar traten die Russen zu ihrem entscheidenden Angriff an.

Doch Hitler und Manstein ließen die in Stalingrad eingeschlossenen deutschen Verbände nach wie vor weiterkämpfen.

Deutschen Berichten zufolge sank die Moral der Offiziere und Soldaten rapide. Auf dem letzten den Deutschen verbliebenen Flugplatz, Gumrak, kam es zu häßlichen Szenen: Offiziere zahlten riesige Bestechungsgelder an die Besatzungen der letzten ausfliegenden Maschinen, um mitgenommen zu werden.

Am 31. Januar kapitulierte Paulus in seinem Bunker im Univermag-Gebäude.

Ein Leutnant fing den Feldmarschall Als ich später nach Stalingrad kam, hörte ich den Bericht des Mannes, der Paulus gefangengenommen hatte. Es war Leutnant Fjodor Michailowitsch Jeltschenko, ein Jüngling mit Himmelfahrtsnase, hellem Haar und lachendem Gesicht, den alle nur “Fedja” riefen. Es sprudelte nur so aus ihm heraus, als er seine Geschichte erzählte - der Leutnant, der den Feldmarschall fing:

“Wir fingen an, das Gebäude zu beschießen. Meine Einheit hatte die dem Seiteneingang des Univermag-Hauses gegenüberliegende Straßenseite besetzt. Als die Granaten im Ziel lagen, erschien ein Abgesandter von Generalmajor Raske am Tor und winkte mir. Es war ein Risiko, aber ich ging über die Straße zu ihm hinüber.

“Der deutsche Offizier rief dann einen Dolmetscher und ließ mir sagen: ‘Unser großer Chef will euren großen Chef sprechen.’

“Ich sagte: ‘Sehen Sie, unser großer Chef hat anderes zu tun. Er ist nicht verfügbar. Sie werden mit mir vorliebnehmen müssen.’ Während wir sprachen, schossen die Unseren von der anderen Seite her immer auf das Gebäude.

“Ich rief nach einigen meiner Leute, und sie kamen herüber, zwölf Mann und zwei andere Offiziere. Sie waren natürlich alle bewaffnet, und der deutsche Offizier sagte: ‘Nein, unser Chef will, daß nur einer oder zwei von euch hereinkommen.’

“Ich antwortete: ‘Kommt nicht in Frage. Ich gehe nicht allein!’ Schließlich einigten wir uns auf drei.

“Wir traten in das Gebäude. Es war vollgestopft mit Hunderten von Soldaten. Schlimmer als in einer Trambahn. Sie waren schmutzig und hungrig und stanken und sahen ganz schön ramponiert aus.”

Jeltschenko und die beiden Soldaten wurden zu Generalmajor Raske und Generalleutnant Schmidt, dem Stabschef von Paulus, geleitet. Nach,einigem Hin und Her wurde Jeltschenko schließlich in das Zimmer des Feldmarschalls gebracht:

“Er lag auf einem eisernen Bett und trug seine Uniform. Er sah unrasiert und nicht sehr fröhlich aus. ‘Nun, das ist wohl das Ende’, bemerkte ich. Er sah mich irgendwie traurig an und nickte. Dann, im Nebenzimmer - der Korridor war, wie Sie wissen, mit Soldaten vollgestopft -, sagte Raske: ‘Eine Forderung allerdings habe ich zu stellen: Sie müssen ihn in einem unauffälligen Auto abholen, mit besonderer Bewachung, damit ihn die Rotarmisten nicht abknallen, als sei er irgendein Vagabund! Ich sagte: ‘In Ordnung.”

Paulus bekam seinen Wagen, und man brachte ihn zu General Rokossowski.

Zur selben Zeit ergaben sich 15 andere deutsche Generale. Die Massenkapitulation der deutschen Truppen begann. Immer noch wurde allerdings im nördlichen Teil Stalingrads Widerstand geleistet. Russische Flugzeuge warfen Flugblätter und Photographien ab, die Paulus bei der Vernehmung durch einen russischen General zeigten.

Zuletzt aber mußte doch schwere russische Artillerie eingesetzt werden, ehe sich auch diese letzte Kampfgruppe am 2. Februar ergab. Unter den Gefangenen waren weitere acht Generale, unter ihnen einige besonders fanatische Nationalsozialisten, so Generalleutnant von Arnim.

Mehr als 40 000 deutsche Soldaten und Offiziere wurden hier noch gefangengenommen. Der offiziellen russischen Mitteilung vom 2. Februar zufolge waren im November 330 000 Mann eingekreist worden, 140 000 Soldaten waren zwischen dem 23. November und dem 10. Januar, als die Liquidierung des Kessels begann, entweder gefallen oder verhungert oder erfroren.

Schließlich wurden 24 Generale, darunter ein Feldmarschall, zusammen mit 2500 anderen Offizieren gefangengenommen.

Die endgültige Zahl der Gefangenen wurde auf 91 000 beziffert. Das bedeutet, daß zwischen dem 10. Januar und dem 2. Februar 100 000 Mann und seit der Einkesselung im November mehr als 200 000 Mann den Tod gefunden hatten.

In dem Bericht, den Generalleutnant Rokossowski und sein Stabschef, Generalmajor Malinin, Stalin erstatteten, hieß es:

“In Ausführung Ihres Befehls haben die Truppen der Donfront am 2. Februar 1943, vier Uhr nachmittags, die Vernichtung der feindlichen Kräftegruppierungen in Stalingrad abgeschlossen. Zweiundzwanzig Divisionen wurden aufgerieben oder gefangengenommen … Die Kampfhandlungen in der Stadt und im Raum Stalingrad sind beendet.”

Rußland feierte den Sieg nicht allzu geräuschvoll; aber man war glücklich, zum erstenmal wirklich glücklich, seitdem der Krieg begonnen hatte. Nun wußte jedermann, daß Rußland siegen würde. Es herrschte ein tiefes Gefühl nationalen Stolzes. Alle Leiden, Entbehrungen und Menschenverluste würden nicht vergeblich gewesen sein. Niemand zweifelte, daß dies der Wendepunkt des Krieges war.

Am 3. Februar flogen wir in den Raum von Stalingrad: Wir sollten die deutschen Generale sehen. Unsere Maschine landete auf einem Feldflugplatz.

In der Flugplatzkantine mußten wir lange warten. Drei sowjetische Korrespondenten waren da. Sie waren in Stalingrad gewesen und erzählten:

“Die Gegend ist bedeckt von Tausenden toter deutscher Soldaten. Wir hatten sie eingekreist und ließen dann unsere Stalin-Orgeln los … Mein Gott, war das ein Massaker!”

Auch ein paar junge Soldaten gesellten sich zu uns. Unter ihnen war ein Ukrainer, und er wußte zu berichten:

“Gestern ging ich zur Wolga hinunter, um zu versuchen, ob ich nicht durch ein Eisloch ein paar Fische fangen könnte.

Da sah ich, wie Tausende deutscher Gefangener über den Fluß geführt wurden. Mein Gott, wie sahen sie aus! Schmutzig und unrasiert. Manche hatten schon lange Bärte. Viele litten an Beulen und Geschwüren, und ihre Uniformen sahen entsetzlich aus. Drei von ihnen brachen zusammen und starben in der Kälte …”

Am nächsten Morgen fuhren wir bei einer Temperatur von minus zehn Grad etwa eine Stunde lang über die schneebedeckte Steppe bis zu einer anderen Ortschaft. Hier sollten wir endlich die deutschen Generale sehen.

Die Generale hatte man zu Gruppen von je fünf oder sechs über vier Hütten verteilt. Wir durften nicht eintreten und mußten mit den Generälen - sofern diese überhaupt wollten - durch die Tür sprechen. Einige saßen oder standen im Hintergrund der Räume und drehten uns mehr oder weniger den Rücken zu.

Einige der Generale, die sich im Hintergrund befanden, drehten sich von Zeit zu Zeit um und starrten auf das Tor. Das erste, was einem ins Auge fiel, waren ihre Orden, Medaillen und sonstigen Auszeichnungen. Einige trugen Monokel - und wirkten damit wie Erich von Stroheim.

Der Unerfreulichste war General von Arnim. Als jemand fragte, warum sich die Deutschen in Stalingrad hätten fangen lassen, schnarrte er: “Die Frage ist schlecht gestellt. Sie hätten fragen sollen, wie wir gegen eine solch überwältigende Übermacht so lange aushalten konnten!”

Ich fragte ihn, wie man ihn behandelt habe.

“Die Offiziere”, sagte er bedauernd, verhalten sich korrekt. Aber die russischen Soldaten - das sind Diebe, das sind Halunken. So eine Schweinerei!” Er war ganz aufgebracht. Schamlose Diebe! Sie haben alle meine Sachen gestohlen. Eine Schweinerei! Vier Koffer haben sie mir gestohlen! Die Soldaten”, betonte er nochmals, einlenkend, “nicht die russischen Offiziere. Die Offiziere sind ganz korrekt.”

Diese Leute hatten Europa ausgeplündert und regten sich über vier Koffer auf!

Erstaunlich war, daß diese Generale, die man doch erst ein paar Tage zuvor gefangengenommen hatte, noch durchaus gesund und keineswegs unterernährt aussahen. Offensichtlich hatten sie, während ihre Soldaten verhungerten, noch mehr oder weniger regelmäßig Mahlzeiten zu sich nehmen können.

Der einzige, der elend aussah, war Paulus selbst. Wir durften nicht mit ihm sprechen. Später erfuhr ich, daß er es strikt abgelehnt hatte, irgendwelche Erklärungen abzugeben. Er wurde uns lediglich vorgeführt, damit wir uns davon überzeugen konnten, daß er noch am Leben war und nicht Selbstmord begangen hatte.

Wie man aus deutschen Quellen weiß, gehörte zu den unmittelbaren Folgen der Einkreisung der deutschen Truppen in Stalingrad ein verheerender Mangel an Winterkleidung.

Im November lagen 76 Eisenbahnwaggons mit Winterkleidung auf der Bahnstation Jasinowataja fest, 17 in Charkow, 41 in Kiew und 19 in Lemberg. Das deutsche Oberkommando, das bei seinen Truppen in Stalingrad den Eindruck vermeiden wollte, die Schlacht könne vor Einbruch des Winters nicht mehr gewonnen werden, hatte keine Eile gezeigt, sie mit Winterausrüstung zu versorgen.

Infolge des Zusammentreffens von Kälte und äußerst niedrigen Verpflegungsrationen - gegen Ende der Kämpfe betrug der Tagessatz nur noch 50 Gramm Brot und einen Fetzen Pferdefleisch - stieg die Todesrate bei den deutschen Soldaten, besonders im Januar, steil an.

45 Grad Kälte ohne Pelzstiefel in der zweiten Dezemberhälfte war es sehr kalt (minus 20 bis minus 25 Grad). Die erste Januarhälfte über herrschten dann relativ milde Temperaturen (gewöhnlich zwischen minus fünf und minus zehn Grad). Danach wurde es extrem kalt. Die Temperaturen fielen auf 25, 30, 40, ja sogar auf 45 Grad unter Null.

In der Nacht des 4. Februar erfuhr ich selbst, was 44 Grad Frost sind und was sie für die Deutschen in Stalingrad bedeutet haben mußten.

Niemals in meinem ganzen Leben hatte ich eine solche Kälte erlebt wie auf dieser Fahrt in einem zerbeulten Lastwagen nach Stalingrad. Am Morgen hatte das Thermometer noch 20 Grad unter Null angezeigt. Dann fiel es auf 30, auf 35, auf 40 und schließlich auf 44 Grad.

Man muß 44 Grad Kälte erlebt haben, um zu wissen, was das bedeutet. Der Atem stockt. Wenn man gegen die Handschuhe haucht, bildet sich darauf sofort ein dünner Eisfilm. Wir konnten nichts essen, weil sich unsere ganze Verpflegung in Stein verwandelt hatte.

Selbst in Pelzstiefeln und zwei Paar wollenen Socken mußte man die Zehen ständig bewegen, um die Blutzirkulation in Gang zu halten. Ohne Pelzstiefel waren Erfrierungen unvermeidlich - und die Deutschen besaßen keine Pelzstiefel. Um die Hände beweglich zu halten, war es nötig, sie ständig ineinander zu schlagen.

Einmal nahm ich einen Bleistift, um ein paar Worte niederzuschreiben. Das erste Wort war normal, das zweite schien von einem Betrunkenen geschrieben, die letzten beiden waren das Gekritzel eines Irren. Schnell hauchte ich gegen meine Finger und steckte sie in die Handschuhe zurück …

In Stalingrad stieg ich hinauf zu dem kleinen Ehrenmal, das man auf dem Steilufer errichtete. Ein baschkirischer Soldat mit lustigem Mongolengesicht und lachenden Augen kam zu mir und erzählte mir in gebrochenem Russisch, wie er in der schlimmsten Zeit der Stalingrad-Schlacht bei der Fabrik “Roter Oktober” gekämpft hatte.

Dann fragte er mich, indem er auf die beiden Deutschen deutete, die die gefrorene Erde um das Denkmal aushoben: “Sprechen Sie ihre Sprache?”

“Ja.”

“Dann kommen Sie und sprechen Sie mit ihnen.” Und er meinte: “Wenn man bedenkt, was sie getan haben! Während der Evakuierung sank ein Dampfer auf der Wolga mit 3000 Frauen und Kindern an Bord. Fast alle kamen ums Leben … Und jetzt tragen diese Deutschen unsere Filzstiefel.”

Tatsächlich, beide Deutsche hatten russische “Walenki” an den Füßen. Der eine trug einen schmutzigen deutschen Wehrmachtsmantel, aber darunter alle möglichen anderen Kleidungsstücke. Der zweite trug eine wattierte russische Armeejacke. Und beide hatten Pelzkappen auf.

Sie stammten beide aus Berlin. Ich fragte sie, ob sie immer noch glaubten, daß Hitler der größte Mann der Welt sei. Sie protestierten lebhaft. Der zweite Mann sagte, er sei einmal Jungkommunist gewesen, und der andere war angeblich Sozialdemokrat.

Sie waren beide recht mager, sahen aber einigermaßen gesund aus. Sie berichteten, sie erhielten jetzt genug zu essen und seien überhaupt erstaunt, daß man sie so gut behandle.

Der russische Unteroffizier, dem die beiden Deutschen zugeteilt waren, holte sie zurück, damit sie wieder an die Arbeit gingen.

“Wie sind sie?” fragte ich ihn.

“Sie sind in Ordnung”, sagte er, “wie alle anderen Leute …”

Am Nachmittag stiegen wir auf einem schmalen, vielleicht hundert Meter langen Pfad zum Mamai-Hügel hinauf. Auf dem Gipfel hatten die Russen einen roh behauenen, blaugestrichenen Obelisk aus Holz mit einem roten Stern aufgestellt. Zwischen den zersplitterten Stämmen der Obstbäume lagen Helme, Kartuschen, Granatsplitter.

Ich sah keine Toten, nur einen einzelnen großen Kopf, der mit der Zeit schwarz geworden war und aus dem ein weißes Gebiß grinste; hatte er einem Russen oder einem Deutschen gehört?

Wir gingen die nach Süden verlaufende Hauptstraße hinauf. Sie führte zwischen riesigen Blöcken ausgebrannter Häuser zu einem großen Platz.

Mitten auf dem Pflaster lag ein toter Deutscher. Er muß gelaufen sein, als eine Granate ihn traf. Seine Füße schienen immer noch zu laufen, obwohl der eine durch einen Splitter oberhalb des Knöchels abgerissen war. Der gesplitterte weiße Knochen ragte aus dem gefrorenen roten Fleisch. Sein Gesicht war eine blutige gefrorene Masse, und auch die Blutlache daneben war zu Eis geworden.

Wir überquerten den Platz und betraten den Hof des “Hauses der Roten Armee”.

Hier wurde einem ganz klar, was die letzten Tage Stalingrads für viele Deutsche bedeutet haben mußten. In der Vorhalle lag das Skelett eines Pferdes, es hatte auf den Rippen nur noch ein paar Fetzen Fleisch. Dann kamen wir in den Hof. Noch mehr Pferdegerippe lagen hier; zur Rechten sah man eine riesige, fürchterliche Senkgrube - glücklicherweise festgefroren.

Und dann erblickte ich plötzlich an der Rückseite des Hofes eine menschliche Gestalt. Es war ein Mann, der über einer zweiten Sitzgrube gehockt hatte. Als er uns bemerkte, zog er sich hastig die Hosen hoch und schlüpfte in die Tür eines der Gebäude.

In dem Augenblick, in dem er an uns vorüberhuschte, fing ich einen Blick aus seinem elenden Gesicht auf, einen Blick voller Leiden und fast idiotischer Verständnislosigkeit. Einen Augenblick lang wünschte ich, daß ganz Deutschland das sehen könnte. Der Mann war im Sterben.

In dem Gebäudeteil, in den er hineingeschlüpft war, lagen noch zweihundert Deutsche - sie starben langsam an Hunger und an Erfrierungen.

“Wir hatten noch keine Zeit, uns mit ihnen zu beschäftigen”, sagte einer der Russen, “ich glaube, man wird sie morgen fortbringen.”

Neben der anderen Latrinengrube waren hinter einem niedrigen steinernen Wall die gelben, mageren Körper toter Deutscher aufgereiht, etwa ein Dutzend wächserner Figuren.

Ich erinnerte mich an die angsterfüllten Tage im Sommer 1942, an die Londoner Bombennächte, an die Bilder, die Hitler lächelnd auf den Stufen der Madeleine in Paris zeigten, und an die aufreibenden Tage der Jahre 1938 und 1939, als einem eingeschüchterten Europa das vom kannibalischen Gebrüll des Mobs begleitete Geschrei Hitlers entgegenschlug.

Und die gefrorenen Latrinengruben, die abgenagten Pferdeknochen, die verhungerten Körper im Hof des Hauses der Roten Armee in Stalingrad schienen mir Zeichen unerbittlicher Gerechtigkeit zu sein.

Von Alexander Werth

in: Der Spiegel Nr. 31/1965


Der Beitrag wurde am Montag, den 14. November 2016 um 01:11 Uhr unter der Kategorie Vorstand veröffentlicht. Sie können die Kommentare zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen und selbst einen Kommentar schreiben.

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