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22.6.1941 - Überfall auf die Sowjetunion »
Wolgograd. - Eine neue Erinnerungsstätte soll an den blutigen Wendepunkt der Schlacht um Stalingrad erinnern. Ganz ohne den üblichen heroischen Bombast. Kann das in Putins Russland gelingen?
Stäbe ragen aus dem Boden und wiegen sich im Winde. Mit einkehrender Dunkelheit entfalten die dünnen Stecken am Kopfende ein sanftes Licht. Sie sollen tausende Opfer symbolisieren, die in der Operation “Kleiner Saturn” ihr Leben ließen und doch in der Erinnerung weiterleben. “Kleiner Saturn” fand im Dezember 1942 statt, 200 Kilometer südlich von Woronesch am Don. Knapp zwei Wochen lang rannte die Sowjetarmee gegen die Frontlinie am “Osetrowskijer Brückenkopf” an. Deutsche, vor allem aber italienische, rumänische und ungarische Truppen hielten diese Linie.
Der Durchbruch gelang der Roten Armee Ende Dezember. Im Süden wurde die deutsche Kaukasusarmee von den Verbindungslinien abgeschnitten. Vor allem konnten aber von Woronesch keine Truppen den bei Stalingrad eingeschlossenen deutschen Verbänden mehr zur Hilfe eilen. Den Stalingrader Kessel zu entsetzen, war für die Deutschen damit unmöglich geworden.
“Kleiner Saturn” wendete das Kriegsgeschick und zwang die Wehrmacht schließlich zum Rückzug. Bislang jedoch hatte Russlands Erinnerungskultur die Bedeutung des Osetrowskijer Brückenkopfes für den Kriegsverlauf nicht angemessen gewürdigt. Die Idee zu einer Erinnerungsstätte gab es schon länger. Den Ort des Gedenkens als ein Stück erlebbarer Landschaftsarchitektur zu gestalten, erfahrbar zu machen, stammt jedoch von dem internationalen Architektenbüro IAW (International Architecture Workshop) mit Sitz in Moskau. Der italienische Chef Alberto Priolo unterhält noch Niederlassungen in Turin und Düsseldorf, wo er mehr als ein Vierteljahrhundert im Einsatz war. Moskau ist mit acht Jahren noch ein junges Büro.
“Ich hoffe, dass dieses Projekt dazu beiträgt, die neuen politischen Spannungen zu entschärfen”, meint Alberto Priolo. Er formuliert es nicht so deutlich: Dem traditionellen militaristischen Heldenkult versucht er mit menschlichen Dimensionen entgegenzutreten. Der kollektive Held verwandelt sich bei ihm wieder zu einem zerbrechlichen Individuum. Das muss nicht im Krieg gefallen sein, es hat vielleicht nur Opfer gebracht: das Augenlicht, Gehör- oder Geruchssinn verloren. Invaliden sind in Russland keine Helden, sie werden von der Gesellschaft seit jeher ausgespien.
Wenn Blumen in dem Entwurf Düfte verströmen und Stumme von einer vieltönigen Geräuschkulisse begleitet werden, dann wird den Gezeichneten ein Stück Menschsein zurückerstattet. Das ist für die in polierten Granit gehauene Heldenverehrung ein Novum, eine Abkehr vom überhöhten Totenkult.
Auch die Anlage des Parks lässt aufhorchen. Sie folgt in Andeutungen der Geometrie des Sternbildes Saturn. Wie Lanzen durchziehen parallele Schneisen die grenzenlose Wiesenlandschaft. Offene Wunden, Gräben und aufgeworfene Furchen bewahrt der Boden der zerwühlten Landschaft. Die Schneisen verwenden nur raues Material, rostiges Metall verschalt deren Ränder. Verrostete Gebrauchsgegenstände statt Marmor markieren denn auch den Eingang zur Gedenkstätte. Die begehbaren Lanzen, die sich zu Spitzen verjüngen, führen bis zur Böschung über dem Don. Zweihundert Meter in der Tiefe fließt der stille Strom. Das ist der Ort, wo die Offensive anlief. Zweihundert Meter mussten sich Rotarmisten bergauf kämpfen. Ein mörderisches Unterfangen. Noch heute ist der Boden mit Gebeinen übersät. Am Ende waren elf Divisionen der Achsenmächte zerrieben, und 60.000 Soldaten gerieten in Gefangenschaft.
“Wer konnte nur auf eine solche Idee kommen, eine Offensive bergauf zu starten?”, meint Alberto Priolo. Die schiere Masse der Todgeweihten überrollte und erdrückte den Feind. Über ein Fiberglaskabel möchte Priolo den Ort von der Böschungskante aus einsehbar machen. Bevor er das steile Ufer erreicht, läuft der Besucher durch ein Amphitheater, das eine ewige Flamme beherbergt. An den Rängen stehen die Zeilen des russischen Dichters Jewgenij Jewtuschenko: “Meinst Du die Russen wollen Krieg?” Auch ein Museum ist vorgesehen, Waffenschauen dürfen in Russland ohnehin nie fehlen.
Der Gouverneur von Woronesch, Alexej Gordejew, unterstützt das Projekt. Die Bewilligung war damit gesichert. In den sozialen Medien ist es jedoch nicht unumstritten. Dem russischen Empfinden fehlt das heroisch Bombastische. Eine Kultstätte ohne Verbotszonen? Ein Terrain, das sich der Besucher nach eigenem Belieben aneignen kann? Das sind Freiheiten, die noch gültige Wertvorstellungen übersteigen. Zumal Russland sich gerade in einer Retrophase wähnt, der Wiederentdeckung des Traditionellen. Dazu gehört auch der Militarismus.
Das Gelände liegt in unmittelbarer Nähe einer Raststätte an der Autobahn von Woronesch nach Rostow am Don. Vielleicht werde dies langfristig eine nüchterne Nutzung fördern, meint Alberto Priolo.
Russland steckt zurzeit in einer wirtschaftlichen Krise. Dem Staat fehlt das Geld. Selbst Projekte, die sich in die vom Kreml begradigte historische Erinnerungslinie eingliedern ließen, gehen leer aus. Private Geldgeber müssen einspringen. Eine bescheidenere Ausführung auf kleinerem Terrain liegt deswegen für ein schmaleres Budget als Entwurf schon bereit. Zentrales Erinnerungsmoment stellt eine Piazza dar, deren in den Boden gelassene Steinplatten an Gräber in alten Kirchen erinnern.
Architetto Priolo schwärmt von den Arbeitsbedingungen in Russland. Er sei sehr zufrieden, sagt er. Der Baumeister weiß um seine Privilegien. Priolos Kunden gehören zu jener Klientel, die erst bei sechs Nullen zu zählen beginnt. Schlüsselfertige Übergabe bedeutet für jene Bauherren, dass auch Tischservice und Silberbestecke aus erlesenen Werkstätten in der Bestellung inbegriffen sind. Russland steht auf “all inclusive”, ob reich oder nicht so reich.
Leichter habe er es sicherlich als viele seiner Kollegen, räumt Priolo freimütig ein. Die Auftraggeber halten den seit Jahrzehnten im Ausland lebenden Kalabrier für einen waschechten Italiener. Dass er noch an einstigen Tugenden des deutschen Handwerks festhält, macht ihn für russische Bauherren zu einer Traumkombination. Perfetto.
Quelle: Klaus-Helge Donath in RP 23.3.2016 -
Der Beitrag wurde
am Donnerstag, den 31. März 2016 um 19:08 Uhr
unter der Kategorie Vorstand veröffentlicht.
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