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Eine Reise in die Vergangenheit


 

 

 

 

 

 

 


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« Pflege der drei ukrainischen Gräber  |   Reise in die Vergangenheit »

Hermann Bellenberg, Kriegsveteran

Eine Such- und Grabungsreise vom 4. bis 18. Juni 2007
Bericht von K.-H. van Gerven

Abflug Düsseldorf 10.30 Uhr am 4.06. 2007 nach Moskau. Wir haben klares Wetter und landen um 15.30 Uhr einschließlich 2 Stunden Zeitverschiebung. Auf dem internationalen Flughafen Scherenetjewo 2 erwatet uns mit Namensschild ein freundlicher Reisebegleiter, der uns zum Flughafen Scherenetjewo 1 begleitet. Herr Wendler vom Reisebüro Intourist Veto Travel Office GmbH in Köln hat alles vortrefflich organisiert. Wir fahren mit dem Taxi und unserer schweren Ausrüstung zu dem genannten Flughafen, der nur für Inlandflüge ist. Von hier fliegen wir um 21.50 Uhr mit der Aeroflot nach Wolgograd und landen um 23.50 Uhr auf dem Zielflughafen Gumrak. Hier erwartet uns Matthias Gurski vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. in Kassel, der als ständiger Leiter in Wolgograd arbeitet. Um 0.30 Uhr sind wir im Hotel Yushnaja. Wir fallen wie tot in unsere Betten. Draußen sind noch immer 29°C. Am anderen Morgen Frühstück, anschließend Besprechung und Planung um 10.00 Uhr für den Einsatz in der Kalmückensteppe.

Matthias Gurski teilt uns mit, dass er ganz plötzlich Besuch aus Moskau bekommen hat, mit dem er für eine Woche in den Kaukasus fährt. Wir lernen die Herren Strojek und Lindau im Laufe des Morgens vom Volksbund in Moskau kennen, mit denen ich schon korrespondiert hatte. Die 30°C sind schon weit überschritten und mit Alexey fahren wir zum Einkaufen. Sein Jeep ist noch in der Werkstatt, denn die Wasserpumpe ist defekt. Durch diesen Umstand verzögert sich unsere Abreise auf Mittwoch, den 6.06.2007.

Morgens 10.00 Uhr holt uns Alexey vom Hotel ab. Wir haben nur das Nötigste im Gepäck, denn der Laderaum ist sehr beengt durch Suchgeräte u. Suchstangen, sowie weitere Ausrüstung, und fahren mit insgesamt 4 Leuten los. Alexey ist unser Fahrer, ein guter Freund, den ich schon seit 1999 kenne. Cergey ist ebenfalls unser 2. Begleiter. Auf ihn komme ich noch mal zu einem späteren Zeitpunkt zurück. Der Rest unseres Gepäcks ist bei Tanja, der Frau von Alexey. Zunächst wollen wir 5 Tage in der Steppe bleiben. Danach stößt eine andere Suchgruppe aus Berlin zu uns. Matthias Gurski hat dies so vereinbart, denn dann wären wir mit 7 Leuten, die alle graben könnten. Dadurch wäre der Erfolg auch größer für uns. Auf der Fahrt zum oberen Tschir kommen wir westlich von Wolgograd direkt in die Steppe. Wir überqueren die Karlowka und danach den Don bei Kalatsch. Das sind Flüsse, die bei Rostow ins Asowsche Meer münden (Schwarzes Meer).

Es ist Mittag geworden. Oberhalb des Kreidefelsens von Kalatsch essen wir zu Mittag an einem Stand. Schweinefleisch gegrillt u. Stampfkartoffeln mit Gemüse für vier Personen etwa umgerechnet 15,- € einschließlich Getränke. Danach überqueren wir den Tschir und fahren weiter nach Obliskaja, Surovikino bis Bokowskaja. Die letzten Lebensmittel werden eingekauft. Wasser, Obst, Tomaten, Gurken und Brot für die nächsten Tage.

Unser Weg führt zunächst über eine Straße, die wir dann gegen einen Feldweg eintauschen. Auf dem Weg nach Nishnij-Astachow müssen wir immer wieder fragen, wo dieser Ort liegt. Man schüttelt den Kopf, das Dorf ist nicht bekannt. Ich erinnere mich an 1999, rechts von uns liegt ein Höhenzug. Berge, die gleichmäßig hoch in Richtung Westen führen. Dies war mir bekannt und wir fahren parallel in Richtung Westen. Wir passieren viele Dörfer und bewegen uns auf Feldwegen, die noch nie ein Auto gesehen haben, und fragen immer wieder nach dem uns bekannten Dorf. Nach Stunden Fahrt finden wir das vorgenannte Dorf.

Auf der Fahrt ins Dorf kommen wir an einem Haus vorbei, das mir sehr bekannt ist. Im Mai 1999 haben wir 10 km westlich von Nishnij-Astachow eine Frau in der Steppe aufgelesen, die in diesem Haus wohnt. Damals schimpfte ihr Mann sie aus, weil sie mit Fremden aus der Steppe kam.
Auf meine Anweisung hin finden wir das Haus von Babuschka Raya und Alexander. Alte Leute, die weit die Siebzig überschritten haben. Raya arbeitet im Garten mit ihrer Enkelin Tanja. Ohne Brille erkennt sie mich von weitem, umarmt und küsst mich wie einen alten Freund. 1999 war es das letzte Mal, als wir uns sahen. Fragen nach meinem Befinden, nach meiner Herz OP 2003. Zwischenzeitlich waren andere Mitglieder unseres Vereins dort, die ihr von meiner OP erzählten. Alexander, ihr Mann, küsst und drückt mich, ebenso wird Alfred begrüßt.

Man bittet uns ins Haus. Schuhe werden ausgezogen, ehe wir das Haus betreten. Alles finde ich wieder wie 1999. Hier ist die Zeit stehen geblieben. Vor der Nikolaus-Ikone bekreuzige ich mich nach russischer Art. Von Babuschka bekomme ich mein altes Bett zugewiesen. Alfred schläft im gleichen Raum auf einem ausgeklappten Sofa. Alexey und Cergey finden ihre Nachruhe auf der Erde. Babuschka richtet ein herrliches Abendessen her. Bratkartoffeln, gebackene Eier, Brot, Tomaten und Gurken.
Wir erzählen aus alten Zeiten. Raya ist 75 und Alexander 79 Jahre alt. Raya bearbeitet den ganzen Garten, sorgt für Mann und Vieh. Alexander ist rundlicher geworden, sein Herz macht nicht mehr so mit wie früher. Deshalb macht sich Raya große Sorgen. Uns fallen die Augen zu. Nach der Hitze und den langen Fahrt gehen wir rechtzeitig schlafen.

Mit dem ersten Hahnenschrei werden wir geweckt. Es ist gerade 4.00 Uhr, wir drehen uns aber noch mal um und schlafen bis 6.00 Uhr.

Draußen ist es noch sehr frisch, aber angenehm. Waschen, Zähneputzen, Rasieren ist nur ein Behelf. Fließendes Wasser gibt es nicht. Das Wasser wird aus einer Pumpe am Wegesrand gezapft. Morgentoilette auf dem Hof aus einem Eimer. Zum Rasieren ein Stück zerbrochener Spiegel an der Datscha. Daneben steht der gemauerte Backofen aus Lehm, er ist frisch geweißt. 100 Augen beobachten uns Fremde aus der Nachbarschaft. Der Hof sieht genau so aus wie bei uns vor 150 Jahren. Eine Glucke treibt ihre Küken über den Hof zu dem Futterplatz, den Raya vorher angelegt hat.
Babuschka bereitet das Frühstück vor. Es gibt Kaffee und Tee, Wurst und Brot, das wir mitgebracht haben. Diese Leute sind so arm und müssen mit 3.300,- Rubel = 100,-€ Rente den ganzen Monat auskommen.

Alexey ist mit unserem Vermieter Alexander zu einer Zeitzeugin unterwegs. Sie hat noch weit bis nach dem Krieg deutsche Soldatengräber gepflegt. Er kommt zurück und fährt gleich wieder weg um noch andere Zeitzeugen zu befragen.
Ich habe ein komisches Gefühl im Magen und kenne die Russen nur zu gut. Wir vermuten, dass Alexey im Auftrag des VDK Erkundigungen einzieht oder für seine Leute und später hinter unserem Rücken die Gräber öffnet. Diesen Einsatz haben wir voll finanziert und sitzen stundenlang in unserem Quartier untätig fest. Weil man in diesem großen Land fremd ist und die Sprache nicht hundertprozentig beherrscht, stellt man sich doch die Frage: Werden wir hier nur ausgenutzt? Wir wissen aus der Befragung von 1999 wo die Gräber sind. Warum lässt man uns nicht graben? Alfred und ich haben unheimliche Wut im Bauch, aber wir sind unseren Begleitern auf Gedeih und Verderb vollkommen ausgeliefert.

Schon ist Donnerstag, der 7. Juni, und wir sitzen nur untätig herum. Plötzlich kommt Alexey mit seinem Allrad, und ich stelle ihn zur Rede. Er merkt, dass ich sauer bin, und ich habe ihm erklärt, dass ich mit seiner Planung nicht einverstanden bin und dass ich nicht seinen Urlaub vor Ort finanzieren möchte.
Nach Rücksprache mit Cergey sollte nun dieser Einsatz doch noch zum Erfolg führen. Plötzlich sagt Alexey: Alles aufladen zum Graben, Kunststofftüten für die Toten, Spaten, Suchgeräte und Wasser, das wichtigste Lebensmittel hier in der Steppe. Übrigens Cergey ist ein sehr frommer junger Mann von 30 Jahren. Sein Tag beginnt schon morgens um 5.00 Uhr, danach verharrt er eine Stunde im Gebet und liest die Bibel. Es ist Fastenzeit und er isst kein Fleisch. Er raucht nicht und trinkt keinen Tropfen Alkohol. Über seine Eltern spricht er ehrfurchtsvoll. Er hat noch keine Freundin gehabt. Ein sehr fleißiger und lieber Kamerad in unserer Runde, der das Letzte mit uns teilt.

Wir fahren südlich von Nishnij-Astachow in Richtung Panomarew. Eine ältere Frau sagte zu Alexey, in einer großen, lang gestreckten Balka lägen viele tote deutsche Soldaten. Überall, wo sie gerade lagen, wurden sie vergraben. Wir finden einen Granattrichter von ca. fünf Metern Durchmesser. Zunächst suchen wir mit Suchstangen und stoßen nach einem halben Meter auf viele Knochen. Ein geübtes Ohr hört sofort, ob man auf Eisen oder Knochen stößt. Tatsächlich finden wir hier in glühender Sonne, mitten in der Steppe, 17 Soldaten. Es ist eine anstrengende und schweißtreibende Arbeit für Cergey und Alfred, der extra für diesen Einsatz lange trainiert hat. Zwei Soldaten liegen mit ihren Köpfen dicht zusammen, so als hätten sie sich im Leben fest umklammert bis in den Tod. Vermutlich hat eine Granate den Erdbunker getroffen, denn wir nennen diese Fundstelle Bunker 1 Nishnij-Astachow 7.06.2007. Da wir keine Knöpfe, Uniformteile und Auszeichnungen finden, liegt die Vermutung nahe, dass man diese Soldaten nackt begraben hat. Denn zur damaligen Zeit wurden Gruppen gebildet, die den Auftrag hatten, zuerst für ihre Armeen zu sorgen. Darunter fiel Uniformen und Waffen der Feinde zu sammeln und an bestimmten Stellen abzugeben, um sie weiter zu verwerten.

An diesem Tag finden wir neun Säcke voll Skelettteile. Anhand von Gebissen haben wir festgestellt, es müssten alles junge Männer gewesen sein, denn kein Zahn fehlte, auch hatten die Gebisse keine Plomben. Gelagert wurden diese jungen Soldaten bei unserer Gastfamilie auf einem Anhänger. Endlich ein Erfolgserlebnis für uns, denn wir haben uns schon ohne einen Erfolg nach Hause fahren sehen.

Heute haben wir schon den 8.06.2007. Nach dem Frühstück Abfahrt zum Versorgungseinkauf nach Kashary. Der Himmel ist bedeckt und es ist nicht mehr so heiß. Zum Markt ist es ca. 35 Km weit. Die Straßen sind sehr, sehr schlecht, immer müssen wir großen Löchern ausweichen. Es liegt grober Split auf dieser Hauptstraße in Richtung Millerowo.

Der Markt ist sehr groß und mit Ständen bestückt mit den Sachen, die man hier in der Steppe am nötigsten braucht. Der Lebensstandard ist nicht so hoch wie bei uns. Die Menschen sind anspruchslos. Wir kaufen Kartoffeln (Katoschka), Brot (Klebba), Zwiebeln (Look), Weißkohl (Kapuschka), Brot und Fleisch für sechs Personen und für mehrere Tage. Das Fahrzeug wird aufgetankt und wir kehren zurück bei glühender Hitze. Mittagessen, und ab zum Einsatz in die Steppe. In dieser Einöde sind wir erbarmungslos der Sonne ausgesetzt. Selten steht ein Baum, der uns etwas Schatten spendet. Wir trinken sehr viel Wasser (Woda), sonst bekommt man hier einen Kreislaufzusammenbruch.

Heute graben wir an zwei verschiedenen Stellen. Diese Stellen heißen für unsere Aufzeichnungen Bunker 1 und 2. Alfred findet heute 2 Soldaten in Bunker 1. Karl-Heinz findet 1 Soldaten im Bunker 2. Alle Soldaten, die bis jetzt gefunden wurden, waren ohne Erkennungsmarke.

Jetzt ist der Himmel etwas bedeckt und es weht ein leichter Wind. Angenehm für unsere Arbeit. Ich erforsche im weiten Umkreis das Gelände, denn es ist schon oft vorgekommen, dass ich in der Steppe deutsche Erkennungsmarken gefunden habe. Gegen 18.00 Uhr werden wir abgeholt aus dieser Einöde. Alexey und Cergey haben an einer anderen Stelle gearbeitet, ca. 5 Km nördlich. Wir fahren zunächst durch verschiedene Balkas zu den Fundstellen von 1999. Auf dem Trampelpfad dorthin laufen uns Füchse ohne Scheu über den Weg. Erdmännchen, die in aufrechter Stellung neugierig uns mit ihren Blicken verfolgen um schnellstens in ihrer Erdbehausung zu verschwinden. Ein friedlich schönes Bild in dieser naturbelassenen Steppe.

Doch der Schein trügt, denn vor genau fünfundsechzig Jahren war hier Krieg und gerade hier fanden die blutigsten Abwehrkämpfe statt. Überall findet man Spuren des Kampfes durch Material, das zurückgelassen wurde. Aber die raue Natur und die Wildnis haben sich alles zurückgeholt und alles bedeckt mit Gräsern, herrlichen Blumen und vielen Kräutern auf diesem nie gepflegten, großen Friedhof. Immer wieder finden wir durch Grabräuber offengelegte Grabstellen. Die Knochen bleichen in der Sonne und sind schneeweiß. Diese werden von uns gesammelt und der unbekannte Soldat bekommt im Tod noch eine würdige Grabstelle auf dem Sammelfriedhof in Rossoschka. Erkennungsmarken, Koppelschloss, Uniformknöpfe werden auf dem schwarzen Markt von den Eingeborenen verkauft.

Heute haben wir Samstag, den 9.06.2007. Um 14.20 Uhr kommen wir aus der Steppe zurück. Die Ausbeute: 5 deutsche Soldaten gefunden. Im Bunker 3 mitten auf einem Feld in 2,5 Metern Tiefe haben wir drei Soldaten bergen können und im Bunker 4 weitere 2 Soldaten.

Im Bunker 4 haben wir die erste Erkennungsmarke gefunden mit der Nr.:
1999 P. Inf. Ersatz. Btl. 194
Blutgruppe A

Im Bunker 4 fanden wir 2 Erkennungsmarken mit der Nr.:

2011 3. / Inf. Ers. Btl. 194“
Blutgruppe B

Dies muss ein Kamerad sein von der vorgenannten E.-Marke, denn nur zwölf Nummern unterscheiden beide. Beide Soldaten lagen ca. einhundert Meter auseinander in zwei Meter Tiefe. Die 3. Erkennungsmarke ist:

535 Schtz. Ers. KP. 1. / 184
Blutgruppe A

Die letzte gefundene Erkennungsmarke kann ein Kamerad meines Vaters gewesen sein, denn mein Vater hat die Erkennungsmarke:

-871- 4./ Inf. Ers. Batl. 184

Das bedeutet II. Batl., 6. Kompanie von der 306. Infanterie Division, Rgt. 580.

Insgesamt haben wir bis heute 25 Soldaten bergen können. Ein kleiner aber schöner Erfolg.

Heute am Sonntag, den 10.06.07, fahren wir nach Wolgograd zurück und kommen am Montag, den 11.06.07, wieder mit einer neuen Suchgruppe aus Berlin zurück.

Die Gruppe nennt sich V.K.S.V.G. e.V.
„Verein zur Klärung von Schicksalen Vermisster und Gefallener“

Ein Mitarbeiter heißt Florian. Florian habe ich kennen gelernt 2001 in Nürnberg, im Zusammenhang mit unserem damaligen Mitglied Jens Czeczor.

Auf unserer Rückfahrt über Bokowskaja fragen wir in der Kirche nach dem Popen (Priester der Orthodoxen Kirche). Er kommt recht freundlich auf uns zu und begrüßt uns herzlich. Seinen Talar hat er bereits an, denn er hat noch zwei Taufen vorzunehmen. Es wird gesungen und gebetet. Mit Wasser wird bei der Taufe nicht gespart. Anschließend nimmt er jedes einzelne Kind, hebt es in die Höhe, so als wolle er Gott dieses Geschöpf angeben. Im Laufschritt mit vorgestreckten Armen und dem Kind läuft er durch den hinteren Raum der Kirche (bei uns nennt man diesen Raum Sakristei), den keine Frau betreten darf. Danach übergibt er das Kind den Eltern, die am Taufbecken stehen. Nach dieser Zeremonie schneidet er jeweils eine Haarsträhne von den Kindern ab und wirft sie in das Taufbecken, das mitten in der Kirche steht. Beide Täuflinge werden noch mal gesegnet und vom Popen geküsst. Somit ist auch dieser Akt vollzogen.

Offensichtlich beeilt er sich, denn er will uns noch mal sprechen. Zunächst bringen wir aber unsere Bitte vor, eine Gedenktafel an der Kirche anzubringen zur Erinnerung an die 306. I.D. und die vielen Opfer auf beiden Seiten des vergangenen Krieges. Diese Infanterie-Division hat in Nishnij-Astachow zäh gekämpft im Dezember 1942. Große Teile davon wurden völlig aufgerieben. Die Regimenter 579 u. 580 haben hohe Verluste erlitten und wurden von T 34 (russ. Panzer) niedergewalzt. Mein Vater hat ca. 40 km westlich von hier sein Leben geopfert.

Der obere Teil dieser Gedenktafel ist in kyrillischer Schrift verfaßt und darunter in deutscher Sprache.
Der Pope hört unsere Bitte ruhig an. Dazu bieten wir ihm für seine Gemeinde eine ausgewogene Spende an. Diese Spende lehnt er kategorisch ab. Er schlägt uns vor diese Gedenktafel in der Kirche anzubringen, da seine zwei Großväter ebenfalls vermisst sind. In der Kirche ist diese Tafel nicht der Witterung ausgesetzt und würde dadurch auch länger erhalten bleiben.

Wir stimmen dem zu, da er ruhig und besonnen auf uns einspricht. Er erscheint uns als guter Geschäftsmann und im Gegenzug bittet er um einen VW-Kastenwagen, der könnte auch gebraucht und 4 – 5 Jahre alt sein. Dieser Wagen sollte mit 2 Sitzen ausgestattet sein und eine geschlossenen Ladefläche haben. Er zeigt uns seinen alten VW, Baujahr 1989. Wir fragen nach dem Kilometerstand, er zeigt mit der Hand zum Himmel und sagt: Das weiß nur der liebe Gott. Alles ist defekt an diesem Wagen wir konnten uns davon überzeugen. Er sagte zu uns, dass er allein alte, arme und kranke Leute damit transportiert. Fünf Gemeinden habe er zu betreuen und dadurch täglich mehrere hundert Kilometer zu fahren. Durch die schlechten Straßen und Wege in der Steppe sind seine Reifen bereits blank.

Wir können ihm keine Zusage machen, aber wir versprechen unsere Unterstützung, damit er einen anderen Gebrauchtwagen bekommt. Der Pope versichert uns nochmals, dass er die Tafel in der Kirche anbringt. Wir tauschen die Adressen aus, denn er würde auch gern einen Wagen in Deutschland abholen, wenn es erforderlich sein sollte. Er entlässt uns mit seinem Segen und dreifachem Kuss.

Nun fahren wir weiter nach Wolgograd, die Zeit drängt, denn durch diesen Aufenthalt ist es fast Mittag geworden. Die Hitze ist unerträglich in diesen Weiten und der Steppe Russlands um diese Jahreszeit. Man ist müde und verschwitzt und döst so dahin durch das Schaukeln des Wagens auf diesen schlechten und welligen Straßen.

In Gedanken gehe ich zurück in das Jahr 1942, Dezember, kurz vor Weihnachten und sehe die vielen Toten auf beiden Seiten des Schlachtfeldes, die jetzt mit dem Boden angefroren sind. Es ist der 2. Kriegswinter, den unsere Väter u. Söhne in Russland mitmachen. Scharfer Ostwind weht und es liegen 30 cm Neuschnee. Die Winterbekleidung unserer Soldaten ist dürftig und die scharfe Kälte von Minus fast 30°C zieht in jede Pore. Kein Dach über dem Kopf. Tag und Nacht dieser Witterung ausgesetzt. Viele sind erfroren, ein stiller Tod.

Der Nachschub läuft nicht, und so leiden unsere Soldaten an Hunger und Heimweh. Die meisten denken an zu Hause, an ihre Frauen, Eltern und Kinder. Die Kampfmoral ist auf Null gerückt. Es kommen unzählige Panzer T 34 immer näher und walzen alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellt.

Plötzlich werde ich durchgeschüttelt, da unser Wagen durch eine tiefe Mulde gefahren ist, die der Fahrer im hohen Steppengras nicht gesehen hat. Aber es ist nichts passiert. Bei einem Achsenbruch hätten wir Tage laufen müssen um Hilfe zu holen. Gegen Abend kommen wir in Wolgograd an. Ankunft Hotel Yushnaja. Frische Kleidung verpacken, denn morgen früh 9.00 Uhr wieder Abfahrt in die Steppe nach Nishnij-Astachow. Aber erst duschen, rasieren nach einer Woche. Wir fühlen uns wie neugeboren. Abendessen, ein Bier und ab ins Bett.

Heute haben wir Montag, den 11. 06. 2007. Frühstücken und auf geht’s mit neuer Gruppe in das 350 Km entfernte Nishnij-Astachow. Auf der Fahrt durch Wolgograd kaufen wir 2 Kränze in einem Sarggeschäft. Von zu Hause haben wir große rote Schleifen mit goldener Schrift mitgebracht, die fachgerecht von der Verkäuferin angebracht werden. Die Kränze sind ein Geschenk unseres Vereins Russland Kriegsgräber e.V. Straelen und sind bestimmt für den russischen und deutschen Friedhof in Rossoschka.
Die Kränze sind aus Kunststoff, sehr schön und echt wirkend, denn bei dieser Hitze würde ein Kranz keine 10 Minuten überstehen. So sind sie aber haltbar für mehrere Monate.
Die neue Gruppe ist vorgefahren und erwartet uns oberhalb von Kalatsch an den von uns bekannten Ständen.

Auf dem russischen Soldatenfriedhof legen wir unseren Kranz nieder unterhalb der Friedensglocke. Alfred und ich legen hier eine Gedenkminute ein und gedenken der toten sowjetischen Soldaten, deren Kinder zu Waisen geworden sind.

Den 2. Kranz legen wir auf dem deutschen Friedhof nieder und sind erstaunt, dass unser Kranz der einzige ist, der das große Doppelkreuz ziert. Neben dem Kreuz liegen zwei umgekippte Vasen, wir richten diese wieder auf und stellen sie so hin, dass der Steppenwind sie nicht umweht. Das Bild meines Vaters mit Rahmen stelle ich in das Kreuz. Und auch hier legen wir eine Schweigeminute ein und gedenken der bereits 48.000 der allein hier bestatteten Soldaten des 2. Weltkrieges, die der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge zur letzten Ruhe gebettet hat. Dies ist ein Mahnmal an alle Völker der Erde, wie nutzlos Kriege sind. Sie bringen nur Leid in alle Familien. Nun suche ich den Namen meines Vaters, Wilhelm van Gerven, geb. 3. Febr. 1911, gefallen am 22. Dez. 1942, der hier im Granitstein 22-2 verewigt wurde. Sein Bild mit einem Korb künstlicher Blumen stelle ich auf den Stein und verharre an dieser Stelle, in ein Gebet versunken. Denke an meine Mutter, die ihm gefolgt ist am 10. Sept. 1945. Beide wurden nur 31 und 34 Jahre alt. Ich denke an meine Jugend, die bis zum Tod des Vaters normal verlaufen ist, da ich gerade 7 Jahre alt und meine Schwester zwei Jahre jünger war.

Das ist das Einzige, das ich für ihn tun kann. Ob ich noch mal wiederkommen kann, weiß ich nicht, denn mit 72 Jahren liegt dies in Gottes Hand. Den Kriegskameraden meines Vaters, Valentin Kaniewski, geb. 25.09. 1911, gefallen am 22.12.1942, finde ich auf dem Stein 38-9. Den Antrag von beiden habe ich dem VDK in Kassel schon vor Jahren gemeldet.

Obwohl beide 300 Km westlich von hier gefallen sind. Also vor dem Kessel von Stalingrad eingesetzt wurden.

Es ist bereits Mittag als wir die andere Gruppe treffen, westlich von Kalatsch. In Bokowskaja wird für eine Woche eingekauft und wir fahren bereits im Halbdunkel durch die Steppe. Unsere größte Sorge ist unser Dorf zu finden, bevor völlige Dunkelheit eintritt. Gegen 21.45 Uhr kommen wir bei unseren Leuten an. Die andere Gruppe hat in der Nachbarschaft Quartier gefunden.

Heute ist Dienstag, der 12. 06.2007. 8°° Uhr Frühstück, ab geht es zur Suche von Gefallenen und Vermissten an den uns bekannten Stellen. Es regnet in Strömen, der Himmel sieht dunkel aus. Wolken verdecken die Sonne. Unser Einsatz muss abgebrochen werden, denn unsere gegrabenen Löcher laufen voll Wasser. Aber so etwas kann sich von einer Minute auf die andere ändern, und die Sonne knallt wieder erbarmungslos auf uns nieder. Eine Stunde später neuer Einsatz im Bunker 4.

Bis 17.°° Uhr bergen wir 10 deutsche Soldaten mit 3 Erk.-Marken. Zu unseren Skelettteilen finden wir auch Goldzähe in einem Unterkiefer. Die Ehrfurcht und Pietät vor dem gefallenen Soldaten ist bei allen unseren Mitarbeitern gleich. So bleiben die Goldzähne dem Gefallenen erhalten. Wir geben sie dem Gefallenen mit auf seinen letzten Weg, was unter den dortigen Verhältnissen nicht immer der Fall ist. Dennoch: Der Gefallene verdient Achtung, er hat sein Leben geopfert, damit wir weiter leben durften.
Ein jugendlicher Russe kommt zu uns und bietet uns eine E.-Marke zum Kauf an. Wir lehnen ab, damit kein weiterer Schwarzhandel damit getrieben wird. Hinterher schenkt er mir die Marke mit der Nr.:

3. / A. R. 186 Nr. 39
Blutgruppe: A

In der unteren Hälfte der Marke ist ein Loch von einer Gewehrkugel. Dieser Soldat war sofort tot. Die Erkennungsmarke ist aus Bunker 2, erklärt er uns. Diese E.-Marke ist in Berlin registriert und wird vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge nach Berlin gemeldet. Als Souvenir darf ich die E.-Marke behalten.

Regen und Gewitter setzen plötzlich ein. Schnell packen wir unsere Suchgeräte und sonstiges Material zusammen. Die zehn Soldaten sind bereits verpackt. Alexey steckt die E.-Marken in Klarsichtfolie für die Wehrmachtsauskunftsstelle, kurz gen. WASt., damit die Angehörigen endlich nach so langer Zeit Bescheid bekommen über den Verbleib ihres Angehörigen.

Folgende E.-Marken sind heute gefunden worden:

Eine halbe E.-Marke mit der Nr.:

8. / I. R. 43. Nr. 75
***
3. / I. E. B. 203 Nr. 5416
Blutgr.: B
***
2. / PZ. A. A. 23 Nr. 168
***

Am 13. fahren Fioder und ich zu einer Versorgungstour für die Gruppe, entweder nach Greko oder Kashary. Fioder ist der Fahrer der Gruppe aus Berlin. Das Wetter ist bedeckt. Gut für unsere Mitarbeiter, die zurückbleiben. Heute soll Bunker 3 geöffnet werden. Alfred mit 65 Jahren führt unsere Gruppe. Die jüngeren Leute aus Berlin und Umgebung sagen ihm, er solle sich schonen. Das will er grundsätzlich nicht und sagt, für diesen Einsatz habe er lange genug trainiert. Er ist der Zweitälteste, aber eisern bei der Sache und steht immer mit an vorderster Front. Zuerst kommen eine Panzergranate und eine Kartusche ans Tageslicht.

Nach 65 Jahren noch gut erhalten. Beides wird wieder vergraben. Nun geht auch dieser heiße Tag zu Ende, eine Tag ohne einen Hauch von Wind.

Aus Bunker 4 haben wir einen Soldaten bergen können mit der E.-Marke:
NF. Gesch. Ers. Kp. 6 Nr. 5204
Blutgr.: 0

Aus Bunker 3 konnten 10 Soldaten exhumiert werden mit 2 E.-Marken:
3. Inf. Ers. Batl. 167 Nr. 5572
Blutgr.: 0
***
3. Kp. I. E. B. 453 Nr. 2547
Blutgr. B
***

Insgesamt konnten bis heute 45 Soldaten geborgen werden. Für uns ein stolzer Erfolg. Für die Angehörigen hat auch das lange Warten ein Ende. Bei einem älteren Soldaten wurde im unteren Gebiss rechts ein großer Backenzahn aus Platin, kein Silber, festgestellt. Auch dieser Soldat darf seinen Zahn mitnehmen zur letzten Ruhe.
Zwischendurch hatten wir heute ein kräftiges, trockenes Gewitter, das vom Kaspischen Meer in Richtung Osten abgezogen ist. Bei Babuschka Raya gibt es heute ein deftiges Abendessen von all den Sachen, die ich mit Alexey und Fioder gekauft habe. Nach dem Abendessen kurze Besprechung für die nächsten zwei Tage. Denn wir haben nur noch den 14. und Freitag, den 15. 06.2007 zur Verfügung. Die Zeit hier rennt nur so dahin.

Heute wird weiter gearbeitet an Bunker 3. Bunker 4 ist leer. Die Gruppe aus Berlin arbeitet heute und morgen noch, danach fliegt sie am Sonntag zurück. Es war jetzt im Nach- hinein doch etwas eigenartig. Sie ließen sich auf kein Gespräch mehr ein und jeder will das Gefundene behalten. Der Fahrer Fioder mit Wagen 43, spricht ein bisschen Deutsch, ist ukrainischer Herkunft, freundlich und hilfsbereit, 50 Jahre alt, verh., 2 Töchter. Er wohnt in Wolgograd

Am 14. 06. finden wir im Bunker 3 noch zwei Soldaten. Da wir nicht mehr in 2 Metern und 2,5 Metern Tiefe auf Knochen stoßen, werden Bunker 3 und 4 von uns geschlossen (zugeschüttet).

Danach fahren wir nach Grekow. Dort soll ein deutscher Friedhof sein, direkt an der Straße nach Millerowo. Die Pappeln können 60 – 70 Jahre alt sein und sind parallel zur Straße gepflanzt im gleichen Abstand nach deutschem Muster. Wir suchen mit 3 Suchgeräten und 2 Suchstangen, stoßen aber auch in der weiteren Umgebung nirgends auf Knochen. Alexey kommt aus dem Dorf zurück und ruft uns zu: „Das ist ein italienischer Friedhof gewesen. Alle toten Soldaten sind von ihren Landsleuten exhumiert und überführt worden nach Italien“. Fehlanzeige, aber man muss bedenken, es sind schon 65 Jahre ins Land gegangen. Zeitzeugen sind bereits verstorben und die nachfolgende Generation weiß von den Vorfahren nur ungenaue Angaben.
Wir packen unsere Sachen zusammen und setzen die Gruppe aus Berlin ca. 6 Km südlich von Grekow in der Steppe ab. Für heute machen wir Schluss. Es war ein recht kühler Tag bei 31°C im Schatten. Der Himmel ist dunkel über Woronesch ca. 100 Km nördlich von Nishnij-Astachow.

Auf der Heimfahrt ins Dorf sehen wir von weitem den Wagen von Matthias Gurski, Leiter der VDK. in Wolgograd. Die Begrüßung ist herzlich wie unter Freunden. Gedanken werden ausgetauscht und viele Fragen beantwortet. Danach fahren wir ins Quartier und duschen uns zunächst.
Diesen Abend lassen wir ausklingen mit ausführlichen Gesprächen. Morgen früh 6.00 Uhr aufstehen zu unserem letzten Arbeitstag. Alfred fährt mit der Gruppe aus Berlin zum letzten Einsatz. Ich bleibe im Quartier und mache meine Aufzeichnungen.

Dabei gehe ich in Gedanken zurück in das Jahr Weihnachten 1942. Nach Zeugenaussagen und Heimkehrerberichten war hier am 22. Dezember 1942 die Hölle los. Über den zugefrorenen Don kamen das 1. und 3. Garderegiment der Russen und drängte mit ihren Menschenmassen und T 34 Panzern von den Höhen, die nördlich von Nishnij-Astachow liegen, die schwache deutsche Abwehrfront der Italiener und der Rumänen auf einer Breite von 45 – 60 Kilometer ein.
Also von Bokowskaja bis in Richtung Millerowo. Dazwischen liegen kleinere Ortschaften wie N.-Astachow, Grekow u. Kashary usw. In diesem Raum stand die 306. Infanterie - Division mit den Regimentern 579 und 580. Die Abwehrgeschütze waren noch auf der Anfahrt, so dass keine Verteidigung möglich war. Die gerade fertig gewordenen deutschen Stellungen wurden von den Russen überrannt. Am 22. Dez. 1942 kam es zu einer panikartigen Flucht mit hohen Verlusten für die 306. I.D. Die sowjetischen Panzerverbände jagten auf N.-Astachow zu und kesselten die gerade in Marsch gesetzten Einheiten der 306. I.D. ein. Beim Ausbruch der deutschen Einheiten entstanden hohe Verluste. Die Reste der Division sammelten sich in Panomarew 8 Km südlich von N.-Astachow. Wieder andere Verbände sammelten sich im Schutze der Nacht und schlugen sich bis Werchne- Sswetschnikoff zu Fuß hinter der Front und weiter über Mijultinskaja in Richtung Morosowskaja ca. 90 Km südlich von N.-Astachow durch.

Seit diesen Kämpfen werden viele Soldaten der Division vermisst. Für viele von ihnen liegen Hinweise vor, dass sie gefallen sind. Viele zersprengte Einheiten und Gruppen haben beim Rückzug durch die tief verschneite Steppe den Tod gefunden, ohne dass es von Kameraden gesehen wurde. Bei der geschilderten Kampflage war es nicht möglich die Verwundeten zu bergen und die Gefallenen zu identifizieren. Erst in Morosowskaja konnte die Front gehalten werden.

In der zweiten Hälfte des Jahres 1942 hatte mein Vater vor seinem Einsatz in Russland den letzten Urlaub. Wir waren, soweit ich das als Siebenjähriger beurteilen kann, eine glückliche Familie. Vater war als Ulkvogel bekannt und er machte mit uns Kindern immer seine Späße. Aber er konnte auch ein strenger Vater sein, aber gerecht, ein Mann, der keine Lügen vertrug. So hatte er es von seinem Vater gelernt und so gab er es an mich weiter. Die wenigen Jahre, die wir zusammen hatten, haben mich geprägt mein Leben lang. Solange ich mich zurückerinnern kann, war er immer für mich da gewesen.
Ich liebte ihn mehr, als Worte es jemals ausdrücken können, und ich möchte ihm heute noch wissen lassen, wie stolz ich immer darauf sein werde, dass er mein Vater war! Die Sorge um seine Familie stand immer im Vordergrund. Vor allem in den schweren Bombennächten in der Heimat waren seine Gedanken stets bei uns. Denn in Belgien am Kanal bekam er nicht die direkten Nachrichten, was bei uns im Ruhrgebiet geschah.

Ab Anfang 1943 lag meine Mutter oft stundenlang im Hoffenster und schaute in die Ferne, ob unser Vater doch den Feldweg herunterkommt. Aber er blieb in Russland im Raum Nishnij-Astachow verschollen. Im September 1945 verstarb dann Mutter bei einem Verkehrsunfall mit 34 Jahren. Jetzt waren meine Schwester und ich Vollwaisen. Vater und Mutter waren nun endlich vereint.

Bis auf den heutigen Tag weiß ich nicht, wo sein Grab genau ist, wo man ihn verwundet oder gefallen zurückgelassen hat. Solange ich lebe und gesund bleibe, werde ich ihn hier weiter suchen.

Sicher ist, dass der Frost ihn erst im März 1943 freigegeben hat und dass er mit seinen Kameraden irgendwo zwischen Morosowskaja bis Nishnij-Astachow in einem Bombentrichter oder Bunker (Massengrab) liegt. Sollte er dennoch gefunden werden durch den VDK., soll er bei seinen Kameraden bleiben, denn er war in diesem schönen, aber armen Land länger tot, als er in seinem geliebten Heimatland gelebt hat.

Sein Name ist auf einem Granitwürfel auf dem Sammelfriedhof in Rossoschka verewigt. Es ist eine würdige Gedenkstätte mit fast 50.000 gefallenen Soldaten unter der brennenden und schweigenden Sonne in Russlands Steppe. Die Heimat und die nachfolgenden Generationen wird es nie ermessen, was die Soldaten auf beiden Seiten erleben mussten. Wie viel Blut hier geflossen ist, kann vor Gott und den Menschen nicht verantwortet werden. Die Steppe liegt nach 65 Jahren friedlich vor mir. Ich nehme Abschied – vielleicht zum letzten Mal! Was bleibt, sind Trauer und Tränen – ein Leben lang.

Mit der Gruppe von Berlin konnten wir einen Teil von insgesamt 47 Soldaten exhumieren mit 11 Erkennungsmarken. Die letzte E.-Marke hatte die Bezeichnung:

Schtz. Ers. Kp. 184 Nr. 531

Der Abschied von den Gasteltern, Nachbarn und Kindern war nicht leicht. Durch kleine Aufmerksamkeiten hatten sie uns alle ins Herz geschlossen. Man küsste und drückte uns fest ans Herz. Tränen der Dankbarkeit sind geflossen und so war auch diese Arbeit wieder völkerverbindend. Das alles war aufrichtig und ehrlich gemeint von diesen wirklich armen und einfachen Menschen.
Wir lassen das kleine auseinandergezogene Dorf Nishnij-Astachow hinter uns. Langsam verschwindet es im Staub unserer Fahrzeuge.

Alfred und ich fahren mit Matthias Gurski. Er hat eine Klimaanlage in seinem Wagen, eine Wohltat in dieser heißen Steppe. Zunächst fahren wir kleine und größere Wege, aber auch Trampelpfade der Tiere durch diese endlose Steppe bis Bokowskaja. Danach geht’s weiter über Sowjetskaja, Obliskaja, Surovikino nach Kalatsch am Don. Gegen Mittag treffen wir im Hotel Yushnaja ein. Endlich wieder duschen, einigermaßen solide Toiletten, kein Donnerbalken wie in N.-Astachow. Langsam werden wir wieder zu Menschen. Das Frühstück ist exquisit. Es gibt hart gekochte Eier, garniert mit Mayonnaise u. Petersilie, heiße Würstchen, Aufschnitt, Rührei mit Schinken, diverse kalte Salate, Crepes, frisch gemacht, kleine Brötchen, verschiedene Gebäckstücke, Butter, Marmelade, Yoghurt, Kaffee, Tee, Säfte, Obst und gebackene Bananen.

Im Laufe des Tages besuchen wir das Kaufhaus (Unimarket), wo General Paulus im Keller seinen Befehlsstand hatte. Mit dem Taxi, der Fahrpreis wird vorher ausgehandelt, fahren wir zum Kriegsmuseum „Panorama“, denn dieses Museum muss man gesehen haben, sonst war man nicht in Wolgograd. Vor dem Eingang stehen 2 Panzer, T 34 Langrohr. Draußen haben wir z. Zt. über 40°C im Schatten. Im Innern alles vollklimatisiert. Ich bleibe in der Vorhalle sitzen, denn ich kenne das Museum im Innern von 1999 u. 2001. Alfred schaut sich alles an. Nach einer Stunde kommt er zurück und ist sehr beeindruckt. Da dieses Haus unmittelbar an der Wolga liegt, haben wir einen herrlichen Ausblick, der weit ins Land reicht. Halbrechts von uns ist die große Insel und über dem breiten klaren Fluß beginnt wieder die Steppe. Links von uns ist das Traktorenwerk „Roter Oktober“. Rechts neben dem Museum liegt die „Rote Mühle“, die als Denkmal erhalten blieb, genau so sah sie 1943 aus. Hier kämpfte man von Raum zu Raum und von Etage zu Etage.
Es ist Nachmittag geworden, wir fahren ins Hotel zurück. Duschen, Seesäcke packen. Unser kleines Wägelchen hat Alexey beim Pförtner hinterlegt. Es war zwischenzeitlich in einer Werkstatt und wurde geschweißt.

Am 17.06.2007 Frühstück, spazieren bis 11.°° Uhr, danach läuft nichts mehr. Die Hitze steht zwischen den Häusern in Wolgograd. Nichts läuft mehr, nur noch Taxis, Sammeltaxis und Busse rasen mit 100 Sachen durch die quirlige 1,2 Millionenstadt plus Dunkelziffer.

Am 18.06.2007 fliegt unsere kleine Gruppe nach Hause. Aufstehen 2.45 Uhr morgens. Knapp eine Stunde Fahrt zum Flughafen Gumrak. Zollkontrolle, man hat im Seesack beim Durchleuchten den Stahlhelm gefunden, den ich mitgenommen habe. Beschlagnahme, ich zeige das Bild meines Vaters. Der Zöllner nickt und sagt Rossoschka, ich nicke auch. Daraufhin darf ich den Helm behalten. Der ganze Inhalt einschließlich meiner schmutzigen Wäsche liegt vor dem Zöllner. Alles rein in den Seesack und ich hatte alles so schön geordnet. Dann fliegen wir zuerst nach Moskau und am Nachmittag nach Düsseldorf. Jeder von uns sehnt sich nach Hause.

Vierzehn Tage sind nicht lange, aber die heiße, trockenen Steppe und die anstrengende Arbeit hat an unseren Kräften genagt. Alle Tage waren schweißtreibend, bedeckt durch den roten Staub der Steppe kehrten wir abends in unsere Unterkunft zurück. Die Waschgelegenheit ließ zu wünschen übrig. Aber wir haben wieder Freundschaften geschlossen mit einfachen russischen Menschen. Vor dem Krieg bin ich geboren und habe Freundschaften geschlossen mit einer Nachkriegsgeneration zweier Länder, die vor 62 Jahren gegeneinander Krieg führten. Uns haben die Gräber der Gefallenen und Vermissten zweier Nationen zusammen- und näher gebracht.

Durch diese Erkenntnisse ist mein Leben bereichert worden. Immerhin waren es 47 Soldaten die wir geborgen haben und die wir dem VDK. in Wolgograd übergeben konnten, wovon 11 bisher unbekannte Schicksale geklärt werden können.

Damit wir auch weiterhin tätig sein können, bitten wir um Unterstützung und Hilfe aus der Bevölkerung.

Unsere Konto Nr. 537 829, BLZ 320 519 96 bei der Sparkasse der Stadt Straelen und Konto Nr. 512 2222 022, BLZ 320 513 84 bei der Volkbank Gelderland, Straelen.


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Der Beitrag wurde am Mittwoch, den 20. Juni 2007 um 16:12 Uhr unter der Kategorie Auf der Suche veröffentlicht. Sie können die Kommentare zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen und selbst einen Kommentar schreiben.

Eine Reaktion zu “Hermann Bellenberg, Kriegsveteran”


  1. Alexander

    Sehr geehrter Herr van Gerven,

    ich habe Ihren Bericht mit großem Interesse gelesen. Ich selbst bin weit nach dem Krieg geboren. Allerdings habe ich vor ca. 10 Jahren eine Russlandreise gemacht und kann daher einige Ihrer Schilderungen zu Land und Leute gut ausmalen. Verglichen mit Ihrer Ungewissheit sind wir (meine Mutter und ich) sehr gut im Bild, was mit ihrem Vater, meinem Großvater geschah. Daher ist es selbst für mich sehr schmerzlich zu lesen, dass es so viele offene Fragen, auch für Sie persönlich, gibt. Was Sie da mit Ihren Kammeraden (mit Verlaub: in dem Alter!) auf sich genommen haben verdient höchsten Respekt. Ihre Aussagen, dass logischerweise immer mehr Zeitzeugen aus dem Leben scheiden und auch ansonsten das Interesse an der Aufklärung dieser Schicksale auf beiden Seiten durch nachkommende Generationen immer mehr in den Hintergrund tritt, lässt mich sehr traurig und deprimiert zurück. Die meisten Menschen der zivilisierten Welt würden nicht einen Tag unter den von Ihnen geschilderten Umständen überleben. Sie selbst haben die Schwierigkeiten bezüglich Navigation, Versorgung, Hygiene, Wetter etc. beschrieben. Aber Sie hatten sicherlich viel im Voraus geplant, hatten die finanzellen und technischen Mittel, kamen zu Friedenszeiten und wurden von den Einheimischen eher unterstützt. Man kann es sich nicht nur annähernd vorstellen wie es unseren Vorfahren dort, fernab der Heimat, teilweise in aussichtslosen Situationen erging.

    Mit freundlichen Grüßen

    Alexander


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